Braucht es mehr, um die Perversität der real existierenden Demokratie deutlich zu machen?
Diese Flaschen standen neulich auf unserem Abendbrottisch. Sie waren während eines Ausflugs mit Familienbesuch zusammengekommen. Da hat es mich plötzlich vor Erkenntnis geschüttelt:
Wie genial! Der Kapitalismus hat es geschafft, einer — nach eigenem Dafürhalten — aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft einzureden, am besten zahle man für das allernatürlichste Grundnahrungsmittel, das Wasser.
Das ist zum Staunen, oder? Das ist bewunderungswürdig!
Der moderne Bürger kann sich schlicht nicht am Leben erhalten ohne Geld. Auch der Bescheidenste muss für das Allernotwendigste zahlen.
Das ist mir natürlich nicht neu. Es ist sogar so alt und selbstverständlich, dass ich es bisher kaum wahrgenommen hatte. Doch an jenem Abend war etwas anders. Der bunte Flaschenreigen auf dem heimischen Tisch hat mich unerwartet getroffen.
Vielleicht bin ich nach 3 Jahren Leben in Bulgarien dafür auch sensibler geworden. Hier kostet Wasser nichts, wenn man dafür kein Geld ausgeben will. Wir holen unser Trinkwasser z.B. aus einem ständig sprudelnden Brunnen im Ort. Gesundes Quellwasser! Das steht jedem frei und viele Menschen machen davon Gebrauch. Auch in der Hauptstadt Sofia gibt es offene, sogar heiße Quellen für Trinkwasser. An denen ist immer etwas los.
Der Kapitalismus hat es nun jedoch geschafft, Trinkwasser sogar in den Laden zu bringen und es mit einem Kaufpreis zu versehen. Dafür ist natürlich einiger Werbeaufwand nötig. Instinktiv fragt sich der Konsument ja, was an dem Wasser besser sein soll als am Trinkwasser zuhause aus der Leitung. Nun, die Werber sind da sehr erfinderisch… Das Konzept geht schon lange auf.
Klar, auch ohne Kapitalismus kostet Trinkwasser etwas. Das Wasser zuhause aus der Leitung ist nicht umsonst. Der Liter Trinkwasser kostet in Deutschland durchschnittlich 0,002€; zuhause kann man also für 1€ runde 500 Liter trinken. Im Laden ist der Preis mindestens 20fach.
Beim Leitungswasser scheint der Preis irgendwie gerechtfertigt. Dafür muss ja Infrastruktur vorgehalten werden. Aber bedeutet das wirklich automatisch, dass für Trinkwasser direkt gezahlt werden muss?
Ich erinnere mich noch daran, dass wir in den 1970ern auf dem Lande in Niedersachen einen eigenen Brunnen hatten. Unser Trinkwasser war also wirklich kostenlos. Doch dann wurde das verboten. Wir durften kein eigenes Wasser mehr konsumieren, sondern mussten das Trinkwasser der Gemeinde nutzen — und natürlich dafür bezahlen.
“Aber das muss doch so sein, denn sonst gibt es keine Qualitätssicherung! Die Menschen würden krank. Es würde sonst auch unkontrolliert Raubbau am Wasser getrieben werden durch Einzelne.” Solche Argumente habe ich dazu vernommen und sie hören sich sinnig an. Wenn Menschen eng zusammenleben, muss vielleicht das eine oder andere reguliert werden. Vielleicht droht sonst zu oft und auch beim Trinkwasser die “Tragik der Allmende”. Aber warum muss dieses Grundnahrungsmittel deshalb in einem modernen Staat extra etwas kosten? Ja, ich will das wirklich mal radikal in Frage stellen.
Denn was bedeutet es, wenn kein Mensch in einem Land sich auch nur mit dem täglichen Wasser bedingungslos versorgen kann? Vom täglichen Brot will ich gar nicht reden.
Ich kann nicht anders, als dabei an den Film The Matrix zu denken:
Es mag extrem klingen — doch ist es wirklich extrem, unvorstellbar? Ich denke: Es ist schlicht das real existierende System. Ob das nun “Demokratie” genannt wird oder nicht, ist einerlei. Es geht darum, wie es funktioniert:
You were born into bondage. Born into a prison you cannot smell or taste or touch. A prison for your mind.
Wer heute in Deutschland (und nicht nur dort) geboren wird, wird in Abhängigkeit hinein geboren. Die Schuldknechtschaft beginnt am ersten Tag. Die Steueridentifikationsnummer erhalten neue Bürger nicht umsonst bereits bei Geburt; sie gilt ein Leben lang. Das bedeutet, wer Geld verdient, schuldet dem Staat sofort Steuern.
Geld verdienen? Muss man das? Ja, man muss. Das ist der Trick! Niemand ist ausgenommen. Geld zu verdienen, ist nicht “nice to have”, weil man es besser als andere haben will, sondern für das schiere Überleben unabdingbar. Niemand kann sich entscheiden, komplett in Selbstversorgung zu leben.
Wo ist der Grund&Boden, auf dem man selbst auch nur ein bescheidenes Leben ohne Geld führen könnte? Wer kann sich Grund&Boden leisten, wenn schon die Wohnung kaum noch zu bezahlen ist?
Inwiefern volle Selbstversorgung wirklich praktikabel wäre, lasse ich mal dahingestellt. Es geht mir um das Prinzip, dass eine Unabhängigkeit schon für das Simpelste nicht einmal möglich ist: für die eigene Ernährung. Wasser kostet immer etwas; Grund&Boden sind nicht erschwinglich. Wer nicht schon welchen hat, bekommt auch keinen mehr.
Gehts denn nicht aber allen auch ohne Selbstversorgung gut? Ja, vielen geht es ordentlich. Das ändert jedoch nichts an der ganz fundamentalen Unfreiheit: Kein Mensch wird in Freiheit geboren, sondern in Abhängigkeit. Keine Befriedigung der grundlegendsten Bedürfnisse ohne Geld. Kein Geld ohne Arbeit. Keine Arbeit ohne Steuern.
Ist denn aber so schlimm? Man kann doch auch nur ganz wenig arbeiten und zahlt dann (fast) keine Steuern.
Ja, das ist schlimm vom Standpunkt der Freiheitsliebe aus betrachtet. Denn auf diese Weise ist eben niemand frei. Und wer nicht frei ist, kann leicht benutzt werden. In Unfreiheit sind Menschen nicht sich selbst Zweck, sondern Mittel derjenigen, die die Abhängigkeit kontrollieren.
Frei bedeutet für mich, ohne Zwang zum Eingehen von Verpflichtungen gegenüber anderen zu sein. Frei bin ich, wenn ich niemandem zu Willen sein muss. Frei ist, wer allen anderen auf Augenhöhe begegnen kann. Freiheit hat, wer zu Angeboten anderer Nein sagen kann.
Solche Freiheit hat in einer kapitalistischen Gesellschaft höchstens der, der wirklich viel Geld hat. Aber wer ist das schon? Selbst wenn es 1% der Bürger sein sollten, kann deshalb nicht von allgemeiner Freiheit gesprochen werden. 99% in Unfreiheit hört sich nicht nach einer belastbaren “freiheitlich demokratischen Grundordnung” an.
Ein freies Leben ist nicht unbedingt bequem oder wohlständig. Nein, der Segen der Freiheit besteht lediglich in der Unabhängigkeit. Sein eigener Herr sein und niemandes Knecht: das ist Freiheit. Das geht natürlich nicht ohne komplette Selbstverantwortung. Für meine Versorgung bin dann rein ich selbst zuständig. Alle Mühe dafür liegt bei mir — andererseits muss ich nichts von dem abgeben, was ich für mich besorge.
Freiheit steht natürlich nicht im Widerspruch zu Verträgen, die ich mit anderen nach meinem Gusto und meinen Möglichkeiten abschließe; Vertragsfreiheit gehört auch zum “Freiheitspaket”. Allerdings endet sie, wenn ich “über meine Verhältnisse lebe”, d.h. an Verträge länger gebunden bin, als mir lieb ist. Deshalb: Vorsicht mit Verträgen!
Wer jedoch nicht anders kann, als selbst für das tägliche Trinkwasser zu zahlen, hat keine solche Freiheit. Er lebt im Grunde schon über seine Verhältnisse.
Wenn wir uns über Demokratie und “ein freies Leben” Gedanken machen, dann scheint mir das Fundament die persönliche Freiheit von Geburt an. Zweck des Staates wäre für mich, zunächst alle Kräfte darauf auszurichten, dass in seinem Inneren alle Menschen die Grundfreiheit haben, keine Verträge eingehen zu müssen. Jeder muss sich selbst versorgen können — ob nun mit einer Hacke und Saatgut auf seinem Grund&Boden oder auf anderem verlässlichem Wege, sei dahingestellt.
Der Staat als Organ der Gemeinschaft der Menschen auf einem Territorium darf nicht ruhen, bis solche Verhältnisse für alle gelten. Dazu gehört natürlich der Schutz von Eigentum und eingegangenen Verträgen im Innenverhältnis zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern — und erst anschließend auch im Außenverhältnis gegenüber anderen Staaten.
Eine Grenze nach außen und stabile Rechtsverhältnisse im Inneren ausgerichtet auf das höchste Gut: die Möglichkeit zur Selbstversorgung aller Mitglieder. Die ist für mich gleichbedeutend mit Freiheit. Darin steckt für mich auch die menschliche Würde, für sich selbst (und seine Lieben) sorgen zu können.
Alles andere muss nachgelagert sein.
Wenn solche Verhältnisse es nicht zulassen, dass es Smartphones oder ein Weltraumprogramm oder eine Autoindustrie oder was sonst noch als Errungenschaft angesehen wird gibt, dann sei das so. Ich denke: ohne Freiheit ist alles andere schal und ohnehin prekär.
Dass Trinkwasser etwas kostet, ist für mich hier nur ein Denkanstoß gewesen. Der Preis des Trinkwassers ist symptomatisch für Verhältnisse, die nicht auf Freiheit, sondern auf Abhängigkeit ausgerichtet sind. Der Kapitalismus instrumentalisiert alles für seine Zwecke. Das ist keine Frage des Ob, sondern des Wann.
Schutz vor den Elementen — Wohnraum — und Nahrungsmittel sind schon seit langem nicht mehr ohne Geld zu haben. Irgendwer macht mit ihnen Gewinn. Beziehungen kosten inzwischen bei Tinder oder Parship auch etwas. Schutz vor Toxinen und Lärm wird mit jedem Jahr ebenfalls teurer; denn wer könnte sich ein Leben auf dem Lande noch leisten, wenn doch alle Arbeit in die Städte zieht? Und wer das dennoch auf sich nehmen will, dem wird die Natur madig gemacht.
Was bleibt ist die eigene Gesundheit. Was kann der Körper noch für sich selbst tun, nachdem ihm Nahrung zugeführt wurde? Der Kapitalismus sagt: Nichts. Der Gesundheit muss mit allerlei Produkten geholfen werden — freiwillig sollte das nicht mehr sein. Das Fitnessstudio für besonders Motivierte ist ein Auslaufmodell. Demnächst wird Fitness verordnet wie eine Impfung; die Krankenkassen werden darauf bestehen.
Und was dann? Es bleibt wohl nur die Luft zum Atmen, die bisher kostenlos war. Aber halt! Ist in der Atemluft nicht CO2? Ist dessen Abgabe nicht schlecht fürs Klima? Muss für seine Produktion nicht gezahlt werden?
Die Luft ist schon im Visier des Kapitalismus. Keine Sorge. Direkt oder indirekt bezahlt der moderne Bürger dafür. Ohne Geld kein freier Atem mehr. Damit schließt sich das Maul des Kapitalismus, der die real existierende Demokratie für sich usurpiert hat. Nichts ist mehr ohne Preis. Alles ist instrumentalisiert für den Gewinn. Spätestens die nächste Generation wird kein Leben mehr ohne Geld, sogar ohne Bargeld kennen. Ihr wird die schiere Möglichkeit fehlen, Alternativen denken zu können.
A prison for your mind.
Und damit wird ihr auch eine grundlegende Vorstellung von Freiheit fehlen.
R.I.P. Freedom!
Immer wieder interessant, wie quer Du denkst (und das schon bevor das als Schimpfwort genutzt wurde) - gute Inspirationen allemal!
Für mich beginnt (und möglicherweise endet er auch dort) der Weg zur Freiheit im Inneren, in der Welt, die ich mir kreiere. Nichts hat eine Bedeutung außer der, die ich ihr gebe. Ich entscheide, ob ich mich unfrei fühle, wenn ich Geld für Wasser zahle. Ich kann die Argumente total nachvollziehen und sie sind schlüssig. Aber die Bewertung dessen liegt in mir. Und vielleicht bin ich ja auch der Staat, der all diese Regeln erlässt - auch wenn ich mit diesen im Unfrieden bin ...