Jahrhundertwende
Wann ist ein Jahrhundert zu Ende? Ist es mit dem letzten Kalendertag, z.B. dem 31.12.1999? Oder ist ein Jahrhundert weniger eine Sache des Kalenders als vielmehr einer Kultur, einer “Grundstimmung”? Mir scheint das Letztere der Fall zu sein.
Die Übergänge vom 18. ins 19. Jahrhundert und vom 19. ins 20. vollzogen sich daher über einen Zeitraum von Jahren, gar Jahrzehnten. Allerdings gibt es, so glaube ich, auch noch jeweils ein charakteristisches, mindestens symbolisches Ereignis, das den Übergang markiert. Es ist gleichzeitig Ende und Anfang: ein Tor, durch das Gesellschaften schreiten.
Für das 18. Jahrhundert ist dieses Ereignis aus meiner Sicht die französische Revolution von 1789 bis 1799. Sie hat die Monarchie ausgeläutet und das Bürgertum eingeläutet. Und mit dem Bürgertum einher ging der Kapitalismus mit der Industrialisierung, deren Kehrseite Armut und Arbeiterbewegung waren.
Das 19. Jahrhundert hingegen endete erst nach dem kalendarischen Jahrhundertwechsel im Zeitraum von ca. 1910 bis 1920. Das zentrale Ereignis war der 1. Weltkrieg. In ihm kamen Industrialisierung und Bürgertum zu einem Höhepunkt: das Schlachtfeld war von Industrieprodukten beherrscht - Artillerie, Maschinengewehr, Flugzeug, Panzer und Giftgas - und die Kämpfenden waren Bürger, keine Berufssoldaten und keine Söldner.
Darüber hinaus war der 1. Weltkrieg der Anfang vom Ende des Kolonialismus/Imperialismus. Die Expansion der Nationen war auf ihrem Maximum und kehrte sich um. In der Folge zerfielen die großen Reiche der Ottomanen, Engländer und Franzosen. Und innere Expansion der USA war gestoppt durch Erreichen des Pazifik.
Das 20. Jahrhundert endete für mich nicht mit dem Fall der Mauer und auch nicht mit 9/11. Beides waren wirkmächtige Ereignisse, doch zeigen sie noch keinen Wechsel der “Grundstimmung” an. Das 20. Jahrhundert ist für mich das der Ideologien gewesen, der weltlichen Religionen. Die politisch konkurrierenden waren Kommunismus, Faschismus und Demokratie, die wirtschaftlich konkurrierenden Sozialismus und Kapitalismus.
Weder durch den Mauerfall noch durch 9/11 wurden die ideologische Grundthematik des 20. Jahrhunderts jedoch beendet. Der demokratisch-kapitalistische Sieg hat vielmehr den Glauben daran gestärkt, dass “die richtige” Ideologie zentral sei. Der sich aus 9/11 ergebende “war on terror” gehört deshalb noch zum 20. Jahrhundert. In ihm musste sich die demokratisch-kapitalistische Ideologie gestützt auf den militärisch-industriellen Komplex letztmalig behaupten.
Doch dieser Endkampf ist nun vorbei. Das 20. Jahrhundert ist beendet. Sein Ende und den Beginn des 21. Jahrhunderts markiert die Corona-Pandemie.
Es geht nun nicht mehr um weltliche Ideologie, also auch nicht mehr um Demokratie. Nach 200 Jahren ist nicht mehr Wohlstand und Freiheit der Bürger Antrieb der Politik. Der militärisch-industrielle Komplex spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Expansion ist abgeschlossen; die Globalisierung hat alle Weltenteile erreicht. Das letzte Imperium ist das des Kapitals.
Doch was zeichnet die Grundstimmung des 21. Jahrhunderts aus? Ist das schon zu erkennen?
Die Industrialisierung war neu im 19. Jahrhundert, sie fiel ins Auge. Sie stand der Gesellschaft gewissermaßen gegenüber. Im 20. Jahrhundert hingegen war sie ganz natürlich; sie war der Rede quasi nicht mehr wert.
Im 20. Jahrhundert hat die Digitalisierung den Platz Industrialisierung eingenommen. Seit den 1970ern fiel sie ins Auge und stand der Gesellschaft gewissermaßen gegenüber: zuerst in Form von Computern, später in Form von online Dienstleistungen und Social Media.
Kennzeichen des 21. Jahrhunderts wird sein, denke ich, dass die Digitalisierung in den Hintergrund tritt. Sie ist einfach da und geht nicht mehr weg. Sie wird sogar total sein und wirklich alle Lebensbereiche durchdringen - zunehmend unsichtbar.
Mit der Digitalisierung geht einher die Möglichkeit der Datensammlung und der zentralen Kontrolle. Beherrschend wird deshalb der digital-industrielle Komplex sein.
Menschen sind allerdings nicht digital, sondern immer noch analog. Wie kann Macht eine Verbindung zwischen beidem herstellen? Ziel: das Digitale nutzen, um das Analoge zu steuern?
Die Verbindung besteht in Emotionen. Mit der richtigen Emotion werden analoge Menschen an digitale Geräte/Dienste gekoppelt. Dann sind Sensoren und Aktuatoren überall installiert.
Die Emotion, die sich dafür anbietet ist die Angst. In der Corona-Pandemie wurde klar, wie das funktioniert. Sie ist eine Pandemie, die ohne digitale Geräte und Medien nicht existieren würde: Medien verbreiten Angst, Geräte steuern Berechtigungen, um die Angst im Zaum zu halten.
Kennzeichnend für das 21. Jahrhundert wird mithin die Angst sein: die Angst davor, Wohlstand zu verlieren. Der wurde im 20. Jahrhundert aufgebaut und gilt als gesetzt.
Natürlich hatten vorherige Generationen auch Angst. Doch die war aus Mangel geboren. Die Angst des 21. Jahrhunderts ist eine andere: ihre Quelle ist der Überfluss.
Doch wer könnte den Wohlstand gefährden? Wovor müssen die Menschen des 21. Jahrhunderts sich fürchten? Auch das ist kennzeichnend für die neue Grundstimmung: Im 21. Jahrhundert lauert die Gefahr überall. Es gibt keine klare Grenze mehr, jenseits der der Feind klar zu erkennen ist. Gegner ist nicht mehr die andere Ideologie, wie es selbst nach 9/11 noch in Gestalt der islamistischen Selbstmordattentäters der Fall war, der überall und jederzeit zuschlagen konnte. Mit ihm verlief die Front schon nicht mehr klar, doch er konnte identifiziert werden.
Im 21. Jahrhundert hingegen ist der Gegner die Natur: Viren und Klima stellen allgegenwärtigen Gefahren dar. Und jeder kann mehr oder weniger direkt dazu beitragen, dass sie Leib und Leben jedes anderen bedrohen.
Die weltlichen Ideologien haben sich damit überlebt. Übrig bleibt der Kapitalismus gestützt durch Moralismus.
#gesellschaft #corona