Wer nichts hat, ist abhängig und damit unfrei. Das ist der bedauernswerte Zustand der meisten Menschen in Deutschland.
Das mag krass klingen, weil es so falsch klingt. Sind denn die Menschen gerade in Deutschland nicht reich und deshalb auch frei? Haben sie nicht alles, was das Herz begehrt: Auto, Playstation, täglichen Coffeehouse-Besuch, Ledersofagarnitur, überquellende Supermärkte, Kühlschrank und Waschmaschine? Natürlich gibt es Unterschiede, sogar große Unterschiede im Eigentum, besonders im Kapitaleigentum. Aber in Deutschland muss niemand verhungern oder im Kalten sitzen. Bildung ist kostenlos und der Urlaub ist auch für den letzten Angestellten gesetzlich garantiert.
Ja, so ist es wohl in Deutschland: die Menschen haben eine Menge. Doch eines haben sie nicht: die Freiheit, sich von anderen zurückzuziehen, wenn es ihnen mit denen nicht mehr gefallen sollte. All die Angestellten und Rentner in ihren Mietwohnungen und hypothekenbelasteten Reihenhäuschen können nicht von heute auf morgen sagen: “Ihr könnt mich mal. Ich bin weg.”
Diese Freiheit haben sie nicht, weil sie eben das Entscheidende nicht haben. Sie haben keinen Rückzugsort, an dem sie sich vor allem selbst versorgen könnten, wenn sie wollten. Deshalb ist Deutschland immer noch ein Land der Habenichtse für mich. Die Menschen haben keine Grundlage für ein eigenständiges, unabhängiges Leben.
Damit will ich Selbstversorgung nicht romantisch verklären; die wäre harte Arbeit. Ich behaupte auch nicht, dass alle nur in Selbstversorgung leben sollten. Auch soll der Begriff kein Leben in Gummistiefeln auf dem Feld hinterm Pferd-gezogenen Pflug suggerieren. Mit einem eigenständigen, unabhängigen Leben meine ich vielmehr ganz allgemein die Selbstversorgung aus eigenen Mitteln mit dem, was für ein würdiges, wenn auch vielleicht nur bescheidenes Leben nötig ist. Diese Mittel können Boden und Immobilie sein oder auch nur eigenes Kapital.
Entscheidend dabei ist die Schuldenfreiheit.
Schuldenfrei genügend Mittel zu haben, um ein Leben nach eigener Façon zu führen, das ist für mich der Kern von Freiheit.
“Nach eigener Façon” kann dann alles mögliche bedeuten. Wie es konkret ausgestaltet wird, hängt von den eigenen Mitteln und Neigungen ab. Für mich steht im Kern dabei jedoch nicht das Materielle. Ob jemand frei ist oder ein Habenichts, hat mit der Abhängigkeit von anderen Menschen zu tun, vor allem der Abhängigkeit von deren Meinung, was man tun oder lassen sollte.
Schuldenfreiheit bedeutet selbstverständlich, niemandem Geld zu schulden, von dem man sich Geld geliehen oder bei dem man “auf Pump” gekauft hat. Doch Schuldenfreiheit wie ich sie meine, geht darüber hinaus.
Schuldenfreiheit bedeutet auch, niemandem Arbeitsleistung zu schulden. Nur wer Nein! zu jedem Arbeitgeber und zu jedem Kunden sagen kann, ist frei. Gerade deshalb braucht es genügend Eigentum der einen oder anderen Art; wer nicht permanent mit Geld von anderen versorgt ist, muss sich selbst versorgen können.
Schuldenfreiheit bedeutet darüberhinaus auch, keine Steuern zu schulden. Das lässt sich in modernen Gesellschaften zwar nicht ganz vermeiden, weil schon das schiere Vorhandensein von Eigentum besteuert wird (z.B. mit Grundsteuer oder KFZ-Steuer), und Steuern in allen wirtschaftlichen Transaktionen stecken (z.B. Mehrwertsteuer, Tabaksteuer). Doch diesen “passiven” Steuern, müssen ja nicht noch “aktive” hinzuaddiert werden, die auf Geldgewinne zu zahlen sind, die man durch Arbeitsleistung erwirtschaftet. Nein! sagen zu können zu Arbeitgebern und Kunden, bedeutet allgemeiner, Nein! sagen zu können zu Geldgewinnen.
Schuldenfreiheit hat scheinbar vor allem mit Geld zu tun. Für mich ist Geldschuld aber nur ein Beispiel. Was ich meine, ist umfassender: Ich meine, frei davon zu sein, ein bestimmtes Verhalten zu schulden. Das Verhalten kann die Zahlung eines Geldbetrags sein, das kann aber auch das pünktliche Erscheinen am Arbeitsplatz sein oder auch nur die Zustimmung zu einer Meinung.
Das Vermögen, das Schuldenfreiheit ermöglicht, ist einerseits materiell — z.B. Grund&Boden —, andererseits finanziell, schließlich jedoch auch psychisch. Selbst jemand mit viel Geld, kann in einem Abhängigkeitsverhältnis stecken und Habenichts sein, weil ihm das Vermögen im umfassenden Sinn fehlt, sich aus dem Verhältnis zurückzuziehen, das ihm Verhalten abfordert, das er eigentlich nicht zeigen will.
Deshalb sind für mich Malediven-Urlaub, SUV, Villa nicht per se Zeichen dafür, dass jemand frei ist. Die Habenichtse in Deutschland tragen auch Off-White Strick Hoodies oder sitzen im Chefsessel. Äußerliche Erscheinung, Doktortitel, Position in einer Organisation: das sind keine notwendigen und keine hinreichenden Kriterien für die Beurteilung, ob jemand Habenichts ist oder wirklich frei.
Wahrlich frei, unabhängig, also quasi ein “Habeall”, statt eines Habenichts ist, wer jederzeit aufstehen und sich ausklinken kann. “Ich bin dann mal weg!”, “Mit mir nicht! Ich gehe!” Wer kann das aber schon sagen? Es sind die allerwenigsten.
Und deshalb ist Deutschland ein Land der Habenichtse, die das, worum sie jeden Tag kämpfen durch ihren Einsatz im Pendelstau, in Endlosmeetings, in Großraumbüros, in Nachtschichten, im Bürokratiesumpf missverstehen als Reichtum und Freiheit. Aber es sind nur Kompensationen. Unendlich kräftezehrende, ablenkende, ressourcenausbeutende Kompensationen, solange die Menschen nicht die Freiheit haben, sich beliebig weit zurückzuziehen, um bei sich zu bleiben.
Danke, Ralf! Danke für diesen Text. Du sprichst mir damit aus dem Herzen.
Diese Unfreiheit trotz gut bezahlten Job und tollen Urlaubsreisen ist das Ergebnis der lebenslangen gesellschaftlichen Indoktrination und Fokussierung auf materielle Befriedigung. Leider funktioniert die nicht endlos, sondern führt häufig zu Frustration. Nicht tun zu können, was man will, immer abhängig von jemanden zu sein, macht krank. Und das sehen wir in dieser sogenannten Zivilisation. Ich muss oft an die "Tribute von Panem" denken und assoziiere dort einige Szenen mit dem, was wir erleben. Vielleicht in abgeschwächter Form, aber die Tendenz ist klar erkennbar. Auf der einen Seite haben wir Dekadenz in Form künstlich geschaffener, nicht reeller Probleme (Gendering, Leugnen des natürlichen Geschlechts, Klima, Pandemien) und auf der anderen Seite die Systemabhängigen, die nur überleben wollen. Es ist der Kontrast zwischen der übertriebenen Fakewelt im TV und der Realität. Immer mehr wird mir klar, dass dieser westliche Reichtum (ich meine vor allem den Konsum, Autos usw.), vernebelt und von der Fokussierung auf echtes Glück ablenkt. Es ist das Leben von Gefangenen, was wir führen, solange wir nicht, wie du schreibst, einfach Nein sagen können. Es ist ein Fehler des Systems, aber auf der anderen Seite der Grund, das diese Matrix noch existiert.
Ich denke, es ist nicht alleine ein Problem der Deutschen, sondern ein weltweites.