Unsere Gesellschaft befindet sich in einer existenziellen Krise, die uns nicht nur weich, sondern auch eindimensional macht. Diese Krise ist subtil, doch ihre Auswirkungen sind weitreichend. Sie manifestiert sich in der Weigerung, andere Sichtweisen zu akzeptieren, in der Angst vor abweichenden Meinungen und der Inflexibilität, unser vorgeprägtes Weltbild zu hinterfragen. Es ist eine Krise der Offenheit, des Muts und der Toleranz.
Wir sind zu einer Gesellschaft herangewachsen, in der Männer wie Schaumstoff wirken, allzu bereit, sich von den kleinsten Unstimmigkeiten verletzen zu lassen. Nicht physische Angriffe oder greifbare Bedrohungen entzünden ihren Zorn, sondern scheinbar harmlose Worte. Ihre Reaktionen sind oft übertrieben und fehlgeleitet, nicht aufgrund einer tatsächlichen Verletzung, sondern aufgrund einer Selbstzensur, die so intensiv ist, dass sie das Grundprinzip der Freiheit der Meinungsäußerung verletzt.
Unsere Vertrauenswürdigkeit als Gesellschaft wird weiterhin auf die Probe gestellt. Wir klammern uns an die Expertenmeinungen aus den weitestgehend gleichschalteten Medien, lassen uns von ihnen beeinflussen und verwechseln dabei meist echte Wissenschaft mit plumper Ideologie. Es gibt eine Unfähigkeit, die Unterschiede zwischen empirisch belegter Evidenz und ideologischer Rhetorik zu erkennen, was zu einer problematischen Verschmelzung von Wissenschaft und Politik führt.
Im Mittelpunkt all dessen steht das unerklärliche Phänomen der Konditionierung. Jeder, der sich gegen das vorgegebene Narrativ stellt, wird als Radikaler abgestempelt, dessen Meinungen unterdrückt werden müssen. Wir haben uns selbst in eine Echokammer eingeschlossen, in der das kollektive Murmeln unserer Ängste und Vorurteile unsere einzige Wahrheit wird. Wir wollen diese Matrix aus Schein, Betrug und bunter Werbung nicht verlassen, weil sie bequem und vertraut ist.
Es gibt jedoch eine tiefe Ironie in diesem Zustand. Wir schreien nach Demokratie und Toleranz, verstehen aber kaum die wahre Bedeutung dieser Worte. Demokratie ist nicht nur ein Kampf um Mehrheiten, sondern auch eine Anerkennung der Minderheiten. Toleranz ist mehr als die passive Akzeptanz des Bekannten; sie erfordert aktive Anstrengungen, um das Unbekannte zu verstehen und zu respektieren.
Wie der jüdische Philosoph Martin Buber sagte: "Der Mensch wird am Du zum Ich". In dieser tiefgründigen Aussage finden wir vielleicht eine Antwort auf unsere aktuelle Krise. Wenn wir uns zu einer Gesellschaft weiterentwickeln, die die Meinungen der anderen respektiert und sie als Teil unseres kollektiven Bewusstseins anerkennt, können wir vielleicht den Zustand der Selbstgefälligkeit, in dem wir uns befinden, überwinden.
Dabei erinnern wir uns an die Worte von Immanuel Kant: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!", die als Leitspruch der Aufklärung galten und aus Kants Essay "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" stammen. Es ermutigt die Menschen dazu, ihre Fähigkeit zur Vernunft und zum kritischen Denken zu nutzen, anstatt blind Autoritäten zu folgen. Vielleicht ist es Zeit, dass wir diesen Mut finden und uns von den ideologischen Fesseln befreien, die unsere kritische Urteilsfähigkeit begrenzen.
Friedrich Nietzsche warnte uns, dass "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird." Diese Worte aus Nietzsches Werk "Jenseits von Gut und Böse" warnen davor, dass man beim Kampf gegen das Böse Gefahr läuft, selbst böse zu werden. Es ist eine mahnende Reflexion über Moral, Ethik und die Natur des Kampfes gegen das, was man als Unrecht ansieht. Unsere Gesellschaft sollte diese Warnung ernst nehmen, wenn sie versucht, abweichende Meinungen zu unterdrücken.
Zum Abschluss ist es unerlässlich, dass wir die Worte des Schriftstellers Günter Grass hinzuziehen: "Das hatten Kapitalisten und Kommunisten immer gemein: die vorbeugende Verdammung eines dritten Weges." So wie Grass in seinen Schriften stets den Finger in die Wunde der Gesellschaft legte, so tue ich es hier auch.
Wir können nicht länger die Augen vor der bequemen Komplizenschaft mit einer Kultur verschließen, die sich der Freiheit des Denkens verweigert. Denn genau das geschieht, wenn wir uns weigern, die andere Seite zu hören, wenn wir unsere Denkweise als die einzig richtige betrachten, wenn wir diejenigen, die uns widersprechen, als Radikale bezeichnen.
Unser Alltag hat sich zu einem Testgelände für unsere Bürgerrechte entwickelt, und es scheint, dass wir nicht gewinnen. Anstatt nach Wahrheit und Verständnis zu streben, haben wir uns in einer selbstgeschaffenen Matrix der Selbstgefälligkeit und Intoleranz verfangen. Unsere Fähigkeit, miteinander zu sprechen, zu diskutieren, zu verstehen und anzuerkennen, ist in Gefahr.
Es ist an der Zeit, dass wir als Gesellschaft aufwachen, die Bürgerrechte im Alltag beweisen und uns aus der Matrix der Selbstgefälligkeit befreien. Es ist an der Zeit, die grundlegende Wahrheit anzuerkennen, dass in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft alle Stimmen zählen und gehört werden müssen. Nur so können wir hoffen, eine gerechtere, tolerantere und offene Gesellschaft zu schaffen.
> Demokratie ist nicht nur ein Kampf um Mehrheiten, sondern auch eine Anerkennung der Minderheiten.
Genau! Demokratie beginnt mit Vielfalt. Nur in Vielfalt können sich Mehrheiten für die eine oder andere Position überhaupt entwickeln. Und nur wenn die Vielfalt auch nach Entstehen einer Mehrheit erhalten bleibt, können sich Mehrheiten auch wieder verschieben.
Demokratie ist kein Selbstbedienungsladen, der so lange nützlich ist, bis die eigene Position die Mehrheit gewonnen hat, um danach die Vielfalt zu beschneiden, damit die Mehrheit auch nicht mehr verloren gehen kann.
Demokratie beginnt mit dem Aushalten dessen, was so ganz anders ist. Wer das nicht über sich bringt, ist kein Demokrat.