Minimalismus - Dialog Teil 2
Ich sollte vorsichtiger sein, was ich sage. Rico merkt es sich womöglich und hält es mir Monate später vor die Nase:
Vor einiger Zeit schrieb Ralf in einem seiner Artikel sinngemäß, dass die Materialisierung von Geld zum Verlust der Flexibilität führt. Geld, was ich also ausgebe, um unbewegliche oder nur schwer bewegliche Gegenstände anzuschaffen, hindert mich daran, flexibel zu agieren. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ich mit frei verfügbaren Finanzen frei bleibe, um mein Leben nach Belieben zu gestalten: ohne Bindungen und Abhängigkeiten.
Habe ich das wirklich so gesagt? Wenn ja, meine ich das immer noch? Denn mein Leben könnte eine andere Geschichte erzählen. Rico würde womöglich kopfschüttelnd “Blödsinn!” murmeln, wenn er mich in meinem Zuhause sähe.
Bleiben wir bei dem Beispiel Immobilien. In meinem Bekanntenkreis halten es nach wie vor viele für eine gute Option, um Vermögen aufzubauen. Ich halte es für ausgemachten Blödsinn, […]
Denn meine Frau und ich sind so ganz anders aus Deutschland aufgebrochen. Wir wollten uns befreien von einem System, das wir zunehmend als einengend empfanden. Unsere Mietwohnungen waren uns zu viel Belastung; der ganze Konsumzwang war uns zu viel. Und der ständig gieriger werdende Griff des Staates in unsere Taschen war uns auch zu viel. Deshalb zogen wir 2016 aus, um uns ein neues Zuhause zu suchen. Wir wollten freier, unbelasteter leben. Wir wollten “minimalisieren”.
Was daraus geworden ist, kann ich mit einem Wort betiteln: “Immobilienimperium”.
Naja, nicht ganz. Aber gegenüber meiner früheren Vorstellung von einem “guten Leben” könnte der Unterschied kaum größer sein. Wir nennen jetzt 2 Apartments, ein Haus und ein Weidegrundstück unser Eigen. Achso, derzeit haben wir auch noch zwei Autos, während wir vordem Jahrzehnte lang keines hatten. (Vom Hund will ich mal schweigen.)
Was ist da passiert? Ich konnte mit Immobilienbesitz nie etwas anfangen; er schien mir der Inbegriff von Unfreiheit. Sind wir Minimalisten geworden? Kaum, oder? Eher Maximalisten, oder?
Nein, ich fühle mich Rico weiterhin in Minimalismus verbunden. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich fühle mich Rico trotz allem in dem verbunden, was hinter dem Minimalismus steht. Denn Minimalismus in Form von Reduktion von stuff ist ja nur ein Mittel, um einen Zweck zu erreichen.
Was ist dieser Zweck, den Minimalismus verfolgt. Geht es um 2 Koffer oder nur um 1 Koffer oder gar nur “das letzte Hemd”?
Mich hat dieses Gespräch jedoch ein weiteres Mal bestätigt, dass zumindest mein Glück in der minimal möglichen Anzahl an Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten liegen kann. So werde ich weiter an meiner 2-Koffer-Idee arbeiten. Am Ziel bin ich noch lange nicht. Aber ich weiß einmal mehr, dass dieser Weg der richtige für mich ist.
Ich denke, Rico hat es schon gesagt: Es geht um minimale Verbindlichkeiten. Der Minimalismus ist nicht stuff minimalisms, sondern obligation minimalism. Und obligations sind eine spezielle Form von Beziehungen.
Wir können also trotz “Immobilienimperium” mit Hund und Autos Minimalisten sein.
Beziehungsmanagement
Sehr allgemein formuliert scheint es mir bei Minimalismus um “Beziehungsmanagement” zu gehen: Nur so viele Beziehungen eingehen wie nötig und so wenige wie möglich. Beziehungen gibt es zu stuff, zu Lebewesen und Institutionen.
Dass wir ohne Beziehungen nicht leben können, ist unzweifelhaft. Aber welche und wie viele Beziehungen sind bekömmlich?
Die Unfreiheit, das sind die anderen
Das grundlegendste Bedürfnis ist für mich mich gar nicht das nach Luft und Nahrung, sondern das nach Menschen. Vor der Geburt existieren wir nicht als Individuen, sondern sind Teil der Mutter. Mit der Ent-Bindung von der Mutter werden wir zu eigenständigen Wesen — und sind doch vollständig auf andere angewiesen. Wir werden ent-bunden in Abhängigkeit hinein.
Von da an geht es darum, uns unabhängig zu machen, d.h. zu uns selbst zu kommen. Das ist eine gesunde Balance zwischen Bindungen zu anderen und Bindung zu uns selbst. Dafür haben wir ein Leben lang Zeit. Spätestens mit dem Tod verabschieden wir uns aus allen Abhängigkeiten. Die Frage ist allerdings, ob wir dann ganz bei uns sind. Ruhen wir in uns selbst?
Zuerst Abnabelung von der Mutter, dann Abnabelung von den anderen. Das sind die Phasen unseres Weges in die Freiheit. Und in der letzten Sekunde unseres Lebens können wir dann hoffentlich über den ganzen Weg bis dahin schmunzeln.
Einfach ist dieser Weg allerdings nicht. Voller Angst klammern wir uns an andere. Können sie uns nicht weiter versorgen, wie es die Mutter getan hat? Dass wir für uns selbst sorgen, scheint so viel schwieriger, als dass wir versorgt werden. Unsere Bedürfnisse sind vielfältig: Wie sollen wir allein unsere Versorgung bewerkstelligen?
Und so versuchen wir, andere Menschen zu kontrollieren. Wir glauben, nur so könnten wir uns ihrer Unterstützung versichern. Auf die eine oder andere Weise wollen wir sie glauben lassen, sie seien uns verpflichtet.
In Ermangelung von Kontrolle ist die zweitbeste Taktik, dass wir uns selbst attraktiv, gar unwiderstehlich machen.
Wenn wir uns unfrei fühlen, dann also wegen anderer Menschen, von denen wir meinen, wir kämen nicht ohne sie aus. Doch das scheint mir eine überkommene Vorstellung aus Säuglingstagen. Wir tragen sie nur mit uns herum, weil wir immer wieder Erfahrungen gemacht haben, die uns das suggeriert haben.
Sich davon zu befreien, ist natürlich nicht leicht. Diese Erfahrungen definieren uns. Uns von ihnen zu trennen, bedeutet, ein Stück unserer Identität aufzugeben. Doch es hilft eben nichts: Diese Vorstellung ist eine Illusion. Als Erwachsene sind wir alt genug, um für uns viel weitgehender sorgen zu können. Oder sollten es zumindest sein. Das macht Erwachsensein aus.
Freiheit beginnt also dort, wo wir unsere Beziehungen, besser: unsere Bindungen auf den Prüfstand stellen. Wo fühlen wir uns verpflichtet? Ist die Verpflichtung real oder imaginiert? Wie können wir uns daraus befreien? Wo versuchen wir (verzweifelt) attraktiv zu werden oder zu bleiben? Wie können wir uns daraus befreien?
Ich will nicht sagen, dass nur der Rückzug in eine Höhle wirkliche Freiheit bringt. Aber an der Einsiedelei ist etwas dran. Ein Leben in der Stadt scheint mir der Befreiung abträglich. Zu viele Beziehungen bieten sich jeden Tag an. Die Verlockungen der anderen sind ungeheuer stark.
Eine kurze Interaktion im Supermarkt mit dem Kassierer mag kein Problem sein. Die Gegenüber in der U-Bahn mögen kein Problem sein. Die Massen in Fußgängerzonen und Geschäften mögen kein Problem sein. Sollen kein Problem sein. Das versichert uns die Stadt; sie will uns an sich binden. Aber es stimmt nicht. Denn wo immer wir auf Menschen treffen, stellen wir die Vertrauensfrage. Schärfer formuliert: Wir stellen sogar die Nützlichkeitsfrage. Können sie uns helfen zu überleben? Deshalb sind wir in einem ständigen Abwägen zwischen Kontrolle und Attraktion. Können wir die anderen nutzen? Und auch: Wie können wir der Kontrolle und den Reizen der anderen entgehen? Vielleicht sind die anderen ja eine Gefahr.
Ich finde das erstens anstrengend. Zweitens stecken wir in der Stadt jeden Tag in diesem System — und bleiben in Unfreiheit.
Freiheit beginnt für mich deshalb erst außerhalb der Städte. Dort, wo wir weniger und weniger Beziehungsangebote bekommen und machen können, erhalten wir Raum zur Klärung, was wir denn wirklich, wirklich brauchen. Welche Beziehungen sind uns tatsächlich wichtig? Brauchen wir den großen Freundeskreis zu unserem Glück — oder reichen 2-3 gute Freunde aus? Funktioniert Partnerschaft am besten in serieller Monogamie oder Polyamorie — oder genügt eine Partnerschaft über lange Zeit.
Nur in gewisser Zurückgezogenheit können wir auch feststellen, wie wir die Beziehung zu uns selbst, die Selbstbindung entwickelt haben. Sind wir auf dem Weg zur Unabhängigkeit, um am Ende schmunzeln zu können?
Die Immobilien stehen uns dabei nicht im Wege. Mit ihnen sind wir keine Verpflichtungen eingegangen. Sie gehören uns, keiner Bank. Deshalb empfinde ich sie nicht als Blödsinn.
Flucht in die Dinge
Wenn die anderen nicht so wollen, wie wir es gern hätten, gibt es noch eine Alternative zur Absicherung unseres Lebens: die Dinge, stuff. Wer viel hat — von schönen Kleidern über schicke Möbel bis zu Auto und Yacht —, der hat sich abgesichert. Oder? Comforting stuff nenne ich das mal.
Beim Kauf haben wir Kontrolle ausgeübt. Wir haben zwar nichts erjagt, aber doch wenigstens Geld gezielt umgewandelt in eine Befriedigung. Da war eine gewisse Selbstwirksamkeit zu spüren. Außerdem ist stuff auch noch verbunden mit anderen Menschen: stuff macht attraktiv, direkt — z.B. in Form von Kleidung — oder indirekt — z.B. in Form bestimmter Erlebnisse oder eines Autos.
Mit stuff wird es also richtig kompliziert in puncto Beziehungen. Einerseits beeinflusst er die zu anderen Menschen, andererseits ist er ein Ersatz für sie. Ein wesentlicher Grund dafür scheint mir die viel einfachere Kontrolle über stuff.
Ich muss mich nicht für stuff attraktiv machen. Ich brauche nur Geld. Ich kann über stuff ganz leicht verfügen, ihn also kontrollieren. Ich brauche nur Geld.
Doch diese Verlockungen der Waren und Dienstleistungswelt sind ein Sirenengesang. Stuff als Ersatz für Beziehungen zu Menschen, ist ein Malstrom, der uns hinab zieht. Er ist bodenlos. Ein Ende des Konsums setzt uns nur die verfügbare Geldmenge. Ist das Konto aber erstmal ausgereizt, folgt Frust.
Wir haben keine Begrenzung in uns für Zuckerkonsum. Genauso haben wir keine Begrenzung in uns für Warenkonsum. Wer anfängt mit stuff als Ersatz für Menschen, hat es schwer, davon nicht verschlungen zu werden.
Wieder ist die Stadt für mich der Ort, an dem die Unfreiheit durch Bindung an Dinge1 unvermeidbar ist. In der Stadt heischen nicht nur die Menschen ständig unsere Aufmerksamkeit; vor allem sind es die Dinge, die überall angepriesen werden. Nichts kann in der Stadt ohne Konsum genossen werden. Wer das Haus verlässt, geht entweder zur Arbeit, um Geld zu verdienen, oder er sucht einen Konsumort auf, um Geld auszugeben.
Das ist der zweite Effekt, den wir in einem fernen Land auf dem Lande auf unserem eigenen Land suchen: weniger Konsumverführung.
Sich gegen die Konsumangebote in der Stadt zu wehren, ist ungeheuer kräftezehrend. Nicht nur ist das Stadtleben überhaupt teurer, es ist auch mental/emotional viel anstrengender. Ständig müssen wir Nein sagen, weil es uns an Budget fehlt, um einem Konsumangebot nachzukommen. Wir haben nicht genug Geld und auch nicht genug Zeit. Doch die Konsumwelt kennt keine Gnade. Wie ein Kleinkind bedrängt sie uns immer und immer wieder, bis wir schließlich nachgeben, um endlich ein wenig Ruhe zu haben.
Auf dem Lande jedoch… da können wir den ganzen Tag ohne Konsumaufreizungen sein. Keine Werbung, nirgends. Nur Natur.
Haus und Land sind uns dabei wichtige Hilfsmittel. Sie erlauben uns den Rückzug. Wir können eine Grenze um uns ziehen, die weit über unsere Kleidung hinausgeht. Der Default für uns ist Distanz; Distanz zu Menschen, Distanz zu stuff. Nur, wenn wir die Initiative ergreifen, suche wir Nähe, die uns taugt.
Minimalismus des Geistes
Die Dinge, die wir besitzen, sind fast ausschließlich funktional und nützlich. Sie helfen uns, an einem Ort mit minimalen Verpflichtungen zu leben. Wir haben uns mittels Immobilien ganz bewusst ent-bunden. Ein erster Schritt war der von der Stadt in ein anderes Land und dort aufs Land. Ein zweiter der noch weiter weg vom Trubel an den Rand eines kleinen Ortes.
Ein materieller Minimalismus ist das nicht geworden.2 Ich würde es eher einen Minimalismus des Geistes nennen. Dem haben sogar materielle Dinge geholfen.
Wir wissen nun, was uns wichtig ist: Stille, Natur, Ausblick — und eine geringe Zahl gestaltbarer Beziehungen. Das würde ich eher als Sein bezeichnen, denn als Haben. Falls sich die Lage in Bulgarien unschön entwickeln sollte, dann sind es auch bei uns nicht mehr als 2 Koffer, die wir mitnehmen, um woanders wieder so sein zu können, wie wir es hier sind.
Mit Dingen meine ich natürlich Materielles. Aber auch Immaterielles wie Dienstleistungen (z.B. Farbtypberatung) oder Erlebnisse (z.B. Escape-Room-Besuch oder Urlaub) sind geeignet, als Ersatz zu dienen. Ja, es ist sogar leichter, sich mit ihnen ersatzzubefriedigen, weil sie keinen Platz brauchen.
Allerdings sind wir nicht in ein Konsumloch gefallen. Die Immobilien haben unser Geld nicht verbrannt. Es sind vielmehr Investitionen, die mehr Geld erwirtschaften, oder zumindest Geldspeicher.