Nicht ohne deinen Helm
Was stimmt nicht mit den Deutschen? Sie wünschen sich eine Pflicht? Fahrradfahrer sollen zwangsweise einen Helm aufsetzen? Mir scheint, da ist wirklich spätestens in Corona-Zeiten irgendetwas ihnen zu Kopfe gestiegen — das nun mit einem Helm gedeckelt werden muss.
Die Umfrage soll repräsentativ gewesen sein. Die Population, aus der eine solche Stichprobe gezogen wurde, ist allerdings nicht näher beschrieben. Deshalb nehme ich mal an, es war die Altersgruppe 18-65 über alle Gender hinweg. In ihr waren also Autofahrer und Fahrradfahrer enthalten.
Wer hat sich da nun eine Pflicht gewünscht?
Die Autofahrer für die Fahrradfahrer? Warum sollte es einen Autofahrer interessieren, ob der Fahrradfahrer, an dem er zu dicht vorbeifährt, einen Helm trägt oder nicht?
Die Fahrradfahrer für sich selbst? Warum sollten sie sich eine Pflicht wünschen, also eine strafbewehrte Verankerung im Gesetz? Jeder Fahrradfahrer kann doch einen Helm aufsetzen, wenn er das für sich hilfreich empfindet. Was scheren ihn die anderen Fahrradfahrer?
Die Fahrradfahrer mit Helm für andere Fahrradfahrer ohne? Wie bei den Autofahrern frage ich mich, was das soll. Dem einen Fahrradfahrer kann der andere doch egal sein. Wer sich selbst schützen will, tut das. Wenn andere es nicht für nötig empfinden, ist das deren Problem.
Die Studie brachte zutage:
Sechs von zehn Personen fordern verpflichtend Kopfschutz auf dem Fahrrad
Nur 40 Prozent der Radfahrer tragen regelmäßig einen Helm beim Radeln
Die meisten sind überzeugt, dass ein Helm wirklich schützt
Was treibt also die 59% an, es sich für sich selbst oder andere zu wünschen? Warum fahren augenscheinlich Menschen Fahrrad ohne einen Helm zu tragen, wünschen sich aber eine Helmpflicht für sich und andere?
Ist das wieder so ein Solidaritätsding? Motto “Dein Helm schützt mich”? Es wäre den Deutschen zuzutrauen.
Irgendetwas in den Deutschen ist da ausgehakt. Oder vielleicht war es nie richtig eingehakt? Wahrscheinlich Letzteres. Mit der Freiheit und ihrer Voraussetzung, der Selbstständigkeit, hat es der Deutsche ja nicht.
Nein, er ist ein Mensch der Pflicht. Früher auch noch der Ehre; aber die ist außer bei Migranten keinen Gedanken mehr wert. Die Pflicht treibt den Deutschen an. Er will, dass man ihm sagt, was er tun soll.1 Kaum 50 Jahren zurück sah das noch anders aus:
“Das Anschnallen und auch die Gurtpflicht waren umstritten. Dabei war den Deutschen die Wirkung des Gurts klar: 90 Prozent hielten ihn 1974 „für ein notwendiges, da sinnvolles aktives Rückhaltesystem“, 81 Prozent waren für den Gurteinbau in Autos. Und trotzdem schlugen die Wogen hoch, als die Gurtpflicht eingeführt werden sollte.”, Quelle
Die Wogen schlugen hoch! Das hört sich nicht nach 60% Verpflichtungswunsch an.
O tempora, o mores! Irgendetwas ist also passiert in den Jahrzehnten seither. Früher, vor kaum 40 Jahren, hat auch nur die Erwähnung einer Penetration durch den Staat für Aufruhr gesorgt: Volkszählung? Das geht gar nicht! Inzwischen muss zur Hergabe der Daten gar keine Pflicht eingeführt werden; alle tun es freiwillig jeden Tag ununterbrochen über allerlei digitale Geräte. Das schert keinen großen Geist mehr im Land der Dichter und Denker. Wenn der Staat nun auch noch Daten möchte, dann nur zu. Wer in der Pandemie fürsorglich war, darf sich auch Datenpreisgabe wünschen.
Wo die eigene Grenze verläuft, will der Deutsche nicht selbst definieren. Das ist ihm wohl zu heikel. Er könnte dabei etwas falsch machen, auf der falschen Seite stehen. Besser, die Grenze wird vom Staat gezogen, wie der es meint. Offen für Migranten? Ok. Keine roten Linien gegen das Virus? Ok. Klare Grenze für Impfmuffel? Ja, bitte! Wieder sind es um die 60%, die sich eine Pflicht wünschen. Penetration durch den Staat gewünscht.
Ich bin fast geneigt, die 60% für eine “magische Zahl” zu halten bei Umfragen. Wer etwas bewegen will, der sieht zu, dass seine Position laut Umfrage schon heute von 60% geteilt wird. Warum gerade um die 60%?
Weniger überzeugt Unentschiedene nicht. Sie wähnen sich noch Teil der Mehrheit. Wer überzeugt werden will, muss erkennen, dass er droht, bald zu einer Minderheit zu gehören. Das wäre keine angenehme Aussicht.
Viel mehr, z.B. 90%, kann der Verdacht einer Manipulation umwehen. 90+% Wahlerfolgt sind in der Politik in real existierenden Demokratien ja auch verschrieen.
Überhaupt mehr als 60%, z.B. 75% oder 80%, lässt fragen, was es denn da zu zögern gibt. Die Mehrheit ist schon klar. Als Unentschiedener muss ich mich nicht dafür entscheiden. Als Gegner bin ich eh schon bei der Minderheit und sollte meine Position eher halten; vielleicht kann ich noch einige umstimmen.
Ja, ich denke, um die 60% sind der sweet spot. Sie sind in politisch motivierten Umfragen gewünscht, um etwas zu bewegen. Umgekehrt zeigen sie für mich, dass es um die Sache eigentlich schlecht steht. Es muss jemand die “magische Zahl” bemühen, um für seine Sache Land zu gewinnen. Das wird deutlich bei der verzerrenden Überschrift oben: Angesichts von nur 36%, die für eine Impfpflicht sind (erster Satz im eigentlichen Artikel), muss mit der Formulierung “4 von 10 gegen Impfpflicht” suggeriert werden, es seien im Umkehrschluss 60% dafür.
Ich denke, der noch etwas skeptische Geist tut gut daran, keiner Umfrage zu glauben, die er nicht selbst so entworfen hat, dass die gewünschte Antwort gegeben wird.
Dennoch traue ich es den Deutschen zu, sich tatsächlich Pflicht um Pflicht zu wünschen im Jahr 2022. Denn die gilt ja nicht unbedingt für sich selbst — hier: Autofahrer —, sondern für andere. Mit einer Pflicht kann der Nachbar oder Fremde in die Spur gebracht werden. Wer sich schon selbst im Korsett eingezwängt empfindet, will nicht, dass andere größere Freiheitsgrade haben.
Wenn ich die DEKRA Umfrage halbwegs ernst nehme, dann kann ich mir nur so erklären, dass 59% — die Autofahrer und Helmträger — sich für die anderen, die Helmmuffel wünschen, dass denen die Freiheit endlich beschnitten werde. Easy Rider war vorgestern; so naiv können nur vormalige Generationen gewesen sein.
Dass sich die Deutschen ihrer Gängelung durch die eigene Regierung oder andere Staaten entledigen würden, ist absehbar nicht zu erwarten. Sie sind vielmehr froh über jede Entscheidung, die sie nicht treffen müssen. Klarheit der Verhältnisse ist wichtiger als alles andere. Selbstständigkeit ist eine Falle.
Übrigens nicht nur in Sachen Gesundheitsfürsorge. Neulich war ich in einem online Meeting mit einem Kunden, in dem es um die Beteiligung an einer Change-Initiative ging. Gefragt, warum Mitarbeiter D. sich noch nicht eingebracht habe trotz Vertrautheit mit allen Optionen, antwortete der: “Mir hat keiner gesagt, was ich tun soll.”