Eben gerade noch saß ich im Büro. Vertieft in meinen Code. Ich war dabei, Probleme zu lösen. Probleme, die es in der wirklichen Welt gibt. Fragestellungen, die erst entstehen, wenn analoge Prozesse in die digitale Welt übertragen werden. Das ist mein Job. Und es macht Spaß, diese Probleme zu lösen. Solange ich mich auf dieser technischen Ebene befinde, ist es sehr spannend. Fast ein Abenteuer. Immer wieder tauchen neue Challenges auf. Alles in dieser Welt scheint wie ein großes Spiel, welches niemals enden wird. Eine parallele Welt zur Realität.
Ich steige in mein Auto. Tropfen pochen leicht auf die Frontscheibe. Es beginnt zu regnen. Ich realisiere die Realität. Dinge, die wirklich passieren. In einer physischen Welt. Nicht virtualisiert und erdacht. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie beide Welten miteinander verschmelzen. Unterbewusst glaube ich von Zeit zu Zeit, Dinge im wahren Leben lassen sich wieder rückgängig machen: “undo”. Wie im Code, den ich geschrieben habe und nach einer Stunde merke, dass ich mich verrannt habe. Nicht weiter schlimm, ich hole den vorherigen Stand aus der Code-Historie zurück und setze in meinen Überlegungen zur Problemlösung neu an. Easy.
Im echten Hier und Jetzt habe ich diese Funktion nicht. Ich kann die Regentropfen auf der Scheibe mit dem Scheibenwischer wegwischen. Dann sind sie weg. Es ist passiert und damit Vergangenheit. Neue Tropfen folgen, aber den alten Zustand bekomme ich nie mehr zurück.
So langsam löse ich mich gedanklich von meiner Arbeit. Starte den Motor und fahre los. Ich war der Letzte im Büro. Es ist Freitag Abend. Die Kollegen sind schon früher in den Feierabend. Es ist ja schließlich Wochenende. Ich sollte mich beeilen, denn ich bin noch auf eine Benefizveranstaltung eingeladen. Vorher muss ich nach Hause. Mir etwas Vernünftiges anziehen. Ich muss schmunzeln. Schmunzeln über meine Gedanken. „Was Vernünftiges anziehen.“ Wie komme ich auf diesen Gedanken, wie komm ich zu dieser Wortwahl. Mir fällt auf, wie leichtfertig wir manchmal Wörter oder Phrasen übernehmen, ohne groß darüber nachzudenken. In solch einer Formulierung steckt eine Erwartungshaltung. „Wenn du zu einer Veranstaltung gehst, musst du dich ordentlich anziehen. Da kannst du nicht im Schlabber-Look hin.“ Ich halte an der roten Ampel und schüttle den Kopf. „Was tun wir Menschen nur?“ Was ist echt in dieser Welt und was ist Schein? Ich frage mich, wo ist der Unterschied zu Karneval oder einer Mottoparty, wenn ich mich verkleiden muss, um an etwas teilnehmen zu können? Mir ist klar, welche Antworten ich auf diese Fragen erwarten kann. „Man macht das so, sonst blamiert man sich.“ Oder „Man zeigt seinen Respekt, angemessene Kleidung zu tragen.“
Bei dem Wort „man“ muss ich zwangsläufig an meine Deutschlehrerin denken. Sie war eine großgewachsene, blonde Frau. Sie strahlte Souveränität aus. Sehr bestimmt, aber auch fair und reflektiert. Sie behandelte ihre Schüler mit Respekt, sofern diese ihn verdienten. Sie war ehrlich, sprach unverblümt und ohne zu beleidigen, wenn ihr etwas nicht gefiel. Eigenschaften, die mir heute wie aus einer anderen Zeit erscheinen: Aufrichtigkeit, Offenheit, echte Meinungsvielfalt, Persönlichkeit.
Ich erinnere mich daran, wie sie auf ihre Schüler reagierte, wenn sie im Aufsatz oder in der Interpretation eines Textes das Wort „man“ benutzten. Sie war entsetzt. Wer ist denn „man“? Das ist unpersönlich. Wenn du deine Sichtweise wiedergibst, dann sage oder schreibe „ich“, aber niemals „man“.
Diese Worte begleiten mich schon fast mein gesamtes Leben. Mir scheint es, wenn jemand keinen eigenen Standpunkt vertritt oder keinen echten Argumente hat, dann spricht er von „man“. Freilich ertappe ich mich auch selbst dabei, dass ich Sätze in dieser Form formuliere. Ich frage mich dann, warum ich „man“ verwendete. Wahrscheinlich weil ich in diesem Moment keine richtigen Argumente hatte oder selbst nicht zu 100 % hinter meiner Aussage stand. Wer weiß!
Inzwischen bin ich nur noch eine Ampel von zu Hause entfernt. Zynisch frage ich mich selbst: „Was trägt man denn zu einer Benefizveranstaltung?“ Ich schaue verschmitzt in den Rückspiegel und muss lachen. Habe ich nichts anderes zu tun, als mir über so einen Unfug Gedanken zu machen? Ich parke mein Auto, nehme meine Laptop-Tasche vom Beifahrersitz und steige aus. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen. Es war ein kurzer Schauer, der nur ein klein wenig Abkühlung brachte in diesem heißen Frühsommermonat. Es ist immer noch sehr warm und ich habe für mich schon entschieden, mit Sicherheit in keinen Anzug zu steigen. Ein wenig später schließe ich die Wohnungstür auf. Alles ist hell erleuchtet. Meine Freundin ruft mir entgegen, dass ich spät dran sei. Sie ist offensichtlich schon seit paar Stunden damit beschäftigt, sich fertigzumachen und die perfekte Garderobe für den Abend zu finden. Etwas in Stress kommt sie mir entgegen und sagt: „Ich habe dir deinen Anzug schon rausgehangen. Du bräuchtest aber langsam mal einen Neuen.“
Ich überlege kurz, was ich sagen soll. Sie meint es ja nur gut. Ich sage kurz: „Danke, aber ich werde etwas anderes anziehen.“
Es ist nicht so, dass ich grundsätzlich etwas gegen Anzüge hätte. Ganz im Gegenteil: Ich finde, es gibt Typen, denen dieses Outfit hervorragend steht. Sie wirken damit authentisch. In den meisten Fällen fühle ich mich damit allerdings nicht wie ich selbst, sondern wie verkleidet. Für gewöhnlich tue ich auch nichts, um mich dem Gruppenzwang zu unterwerfen.
Ja, die Gruppe, die Gemeinschaft. Wir wollen so sehr dazugehören, dass wir uns selbst aufgeben. Wir stellen unseren Willen hintenan, wir lassen das Ich außen vor - und werden zu einer anonymen „Entität“, dem „man“. Wir meinen, die Gemeinschaft „fordert“ Unterordnung: Damit wir durch Konformität zeigen, dass wir uns nicht über sie stellen und sie als etwas Eigenes wertschätzen; damit wir zeigen, dass wir uns nicht über die anderen in der Gruppe erheben wollen; damit wir durch Uniformität die Kohäsion erhöhen und eine Grenze zu Nichtmitgliedern ziehen. Wenn wir dazugehören wollen, müssen wir etwas von uns draußen lassen. Das macht man eben so.
Ich glaube, das ist bis zu einem gewissen Grad tatsächlich nötig. Oft jedoch geschieht es unreflektiert und geht weiter, als nötig. Ein bisschen mehr Mut dürfte man da manchmal zeigen. Äh, dürfte ich da manchmal zeigen😉