Schluss mit der Herrschaft! Dezentralisierung jetzt!
“Die Idee des Herrschens über andere, die ebenso frei und gleich an Rechten geboren sind, ist eine Idee mit Verfallsdatum. Und jeder einzelne bestimmt für sich, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist.”
Das schrieb Milosz Matuschek in diesem Artikel und ich stimme vollen Herzens zu:
Aber es bleibt die Frage: Wie soll denn das gehen?
Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hatten sich die damaligen dortigen Kolonisten vom englischen König losgesagt:
“[S]o Verkündigen wir hiemit feyerlich, und Erklären, im Namen und aus Macht der guten Leute dieser Colonien, Daß diese Vereinigten Colonien Freye und Unabhängige Staaten sind, und von Rechtswegen seyn sollen; daß sie von aller Pflicht und Treuergebenheit gegen die Brittische Krone frey- und losgesprochen sind, und daß alle Politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staat von Großbrittannien hiemit gänzlich aufgehoben ist, und aufgehoben seyn soll;”
Sie empfanden tief, allen Grund dafür zu haben:
“Die Geschichte des jetzigen Königs von Großbrittannien ist eine Geschichte von wiederholten Ungerechtigkeiten und gewaltsamen Eingriffen, welche alle die Errichtung einer absoluten Tyranney über diese Staaten zum geraden Endzweck haben.”
Die amerikanische Revolution, d.h. der Paradigmenwechsel bestand darin, Gleichheit zwischen den Menschen herzustellen. Dass einer — der König — über anderen stehen könnte, wurde verworfen:
“Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.”
Alle Menschen sind gleich vor den Gesetzen der Natur; was natürlich nicht bedeutet, dass es keine Unterschiede zwischen Menschen z.B. hinsichtlich geistiger oder körperlicher Beschaffenheit und Fähigkeit gibt. Allerdings: Keiner war geschaffen über einen anderen zu herrschen.1
Mit der amerikanischen Revolution wurde der König aus dem Zentrum der Gesellschaft entfernt. Es sollte sich nicht mehr alles um ihn drehen. Stattdessen wurde jedes Individuum für sich zum eigenen Zentrum (“Freyheit”) seiner Lebensgestaltung (“Bestreben nach Glückseligkeit”) erklärt.
So, wie das Universum nach der Urknall-Theorie in jedem Raumpunkt seinen Ursprung hat, sah nun die Unabhängigkeitserklärung die Gesellschaft auch aus jedem einzelnen ihrer Mitglieder entspringen. Die amerikanische Revolution war insofern eine wahrhaft Kopernikanische Wende.
Allerdings… Die sich frei machenden Kolonisten wussten auch nicht so recht, wie eine Gesellschaft ohne königliche “Gravitationskraft” sich in geordneten Bahnen entwickeln sollte. Sie sahen es daher als genauso evident an, dass
“[…] zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten;”
Aber inwiefern sollte eine Regierung anders sein als ein König? Ob einem Land ein König vorsteht oder ein Präsident: ist das nicht einerlei? Wie die Geschichte gezeigt hat, ist das tatsächlich kein Unterschied. Mir scheint augenfällig, dass die USA unter Biden oder Trump oder Obama oder Bush usw. kein Hort der “Freyheit” und des allgemein erfolgreichen “Bestreben[s] nach Glückseligkeit” ist und war. Die Regularien, mit denen Menschen in den USA (und auch in Deutschland) eingeschränkt werden, sind weit, weit umfänglicher als sie es zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung waren. Unter einem britischen König wie damals zu leben, würden die meisten US-Bürger heute wahrscheinlich vorziehen.
Aber selbst wenn der Teufel hier (ahnungslos?) mit Beelzebub ausgetrieben worden war, so hatten die Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung doch eine gute Intuition: Sie haben die Unabhängigkeitserklärung mit einem “Notaus” versehen. Es schienen ihnen ebenso evident wie die Gleichheit aller Menschen, dass
“[…] sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.”
Nicht nur sollte es aber der Gemeinschaft der Individuum gestattet sein, ihre Regierung bei Untauglichkeit abzuschütteln, nein, es sei sogar ihre Pflicht!2
“Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen, auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen”
Wie die Individuen sich eine Regierung geben, beschreibt die Unabhängigkeitserklärung nicht. Sie ist kein politisches Dokument, sondern ein ideologisches. Doch dass es einer bedürfe, schien unzweifelhaft — nur eben keiner “von Gottes Gnaden”, der sich Untertanen einfach nur zu unterwerfen hätten, sondern “von Individuums Gnaden.” Und wo die Individuen eine Regierung ermächtigen, können, dürfen, sollen sie sie auch wieder entmachten, sobald sie ihnen nicht mehr taugt.
Wenn Milosz Matuschek konstatiert
“Die Idee des Herrschens über andere, die ebenso frei und gleich an Rechten geboren sind, ist eine Idee mit Verfallsdatum.”
dann gibt er also wieder, was die amerikanischen Kolonisten 1776 auch gedacht haben. Sogar nicht nur gedacht, sondern umgesetzt haben. Denn sie haben ihren Worten Taten folgen lassen. Sie haben sich losgemacht von der “Tyranney” des fernen Königs.
Doch wohin hat das geführt? Letztlich hat sich nichts verändert. Regierung bleibt Regierung. Sie mag von den Unterzeichnern anders, besser gedacht worden sein. Man mag später die repräsentative Demokratie als “eine neue Regierung [angesehen haben], die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als […] zur Erhaltung [der] Sicherheit und Glückseligkeit [aller Individuen] am schicklichsten” sei.
Nur haben die seitdem verstrichenen Jahrhunderte wohl unzweideutig und mit zunehmender Geschwindigkeit gezeigt, dass letztlich jede Regierung dazu tendiert, zu entarten. Die von den Individuen zugestandene Macht korrumpiert selbst die Besten — wenn es die denn überhaupt in die Regierung schaffen.
Bei allem guten Bemühen um eine Verbesserung des Zusammenlebens sind auch die stolzen Amerikaner doch zu kurz gesprungen. Die Franzosen haben es nicht besser gemacht wenige Jahre später; eher sogar schlimmer. Von den Deutschen ganz zu schweigen.
Es bleibt also die Frage: Wie geht Gesellschaft ohne Herrschaft über andere? Kann es eine Gesellschaft ohne Regierung geben?
Die amerikanischen Kolonisten waren revolutionär in ihrem Gedanken, dass eine Gesellschaft keinen König braucht. Wir können uns das heute nicht mehr vorstellen, doch damals war das eine unerhörte Vorstellung, eben revolutionär.
Genauso revolutionär ist heute der Gedanke, dass Gesellschaft ohne Regierung funktionieren kann, nein, sogar muss, um langfristig zu überleben. So würde auch eingelöst werden, womit schon die Unabhängigkeitserklärung anhebt:
“[D]aß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.”
Nur, weil wir uns das heute aber nicht vorstellen können, bedeutet es nicht, dass das unmöglich ist. Dass Menschen fliegen oder ein neues Herz eingesetzt bekommen können, konnte man sich früher auch nicht vorstellen. Für uns Heutige ist das inzwischen selbstverständlich. Wissenschaft und Ingenieurskunst haben es möglich gemacht.
Warum sollte nicht dasselbe für “Gesellschaft ohne Regierung” möglich sein? Mir scheint das nur eine Frage des Willens. Wenn eine Gesellschaft, wenn die Menschheit sich einen solchen Zustand wirklich, wirklich wünscht, dann bin ich gewiss, können Wissenschaft und Ingenieurskunst den herstellen.
Physik und Biologie mit ihren Derivaten Chemie und Medizin haben für die bisherigen handfesten Fortschritte gesorgt. Für den gesellschaftlichen sind nun Soziologie/Psychologie und Softwareentwicklung zuständig, scheint mir.
Es gilt, Gesetzmäßigkeiten (oder vielleicht besser: Tendenzen, Anlagen) zu erkennen — Was funktioniert, was nicht? Wie ist der Mensch gestrickt? Wozu tendiert der Mensch unter welchen Bedingungen? —, um Individuen anschließend mit digitalen Diensten darin zu unterstützen, ihrem “Bestreben nach Glückseligkeit” in maximaler “Freyheit” folgen zu können.
Eine bessere Gesellschaft durch mehr Digitalisierung? Ja, nach reiflicher Überlegung glaube ich, dass das bei der Größenordnung, um die es inzwischen geht, unumgänglich ist. Damit meine ich natürlich keinen Orwellschen Überwachungsstaat oder eine gütige, allwissende KI.
Mir scheint einfach in der Digitalisierung das Potenzial zu liegen, die Bedingung für die Möglichkeit einer freien Gesellschaft herzustellen: Dezentralisierung.
Bei 7+ Milliarden Menschen ist Dezentralisierung nicht mehr über geografische Verteilung kleiner Gemeinschaften zu erreichen. Allemal nicht, wenn den biologischen Individuen noch juristische gegenüberstehen — die Unternehmen —, deren Natur quasi außerirdisch anders ist. Um diese zwei Arten friedlich koexistieren lassen zu können, sind menschliche Repräsentanten in Regierungen erfahrungsgemäß nicht in der Lage. Oder auf welche nächsten Krisen will die Menschheit noch warten?
Bis zum Beweis des Gegenteils erlaube ich mir anzunehmen, dass die krisenhafte, gewalttätige, gar genozidale Entwicklung des Menschen nicht nur korreliert, sondern kausal zusammenhängt mit dem bisher unüberwindbaren Paradigma, dass Regierungen nötig seien.
Und das mag auch bisher eine unausweichliche Entwicklung gewesen sein; es lag evolutionär nahe, sich über zentrale Herrschaften gesellschaftlich zu organisieren. Seit 75 Jahren jedoch kann die Menschheit sich dieses Verharren auf einer überkommenen Entwicklungsstufe nicht mehr erlauben. Mit militärischen Massenvernichtungswaffen von A bis C und ökonomischen von I wie Inflation über M wie Migration bis S wie Sanktion steht jeden Tag alles auf dem Spiel. Regierungen und andere Machthierarchien haben die Mittel zur totalen Vernichtung. Dass davor eine real existierende Demokratie schützt, wage ich zu bezweifeln.
Aus dieser Sackgasse gibt es keinen Ausweg mit jener Regierung statt dieser Regierung. Das bringt allenfalls kurzzeitige Hoffnung/Erleichterung. Das unheilige Paradigma der Herrschaft der einen über die anderen würde bestehen bleiben.
Aus dieser Sackgasse gibt es aber auch keinen Ausweg mit einer KI-Herrschaft. Erstens sehe ich nicht, von wem eine KI etwas lernen sollte, das sie besser macht als menschliche Regierende. “Von den Besten lernen” ist auf Erden unmöglich. Zweitens und wichtiger jedoch: eine KI “to rule them all” würde auch nur den Ansatz fortschreiben, der schon ins gegenwärtige Desaster geführt hat, die Zentralisierung.
Nein, für mich scheint die Regierungslosigkeit definitionsmäßig nur in einer radikalen Dezentralisierung bestehen zu können. Regierung jeder Art ist immer zentral. Nicht-Regierung bedeutet deshalb Aufgabe des Glaubens an zentrale Lenkung jeder Art.
“Freyheit” verträgt keine Hierarchie.
“Die Idee des Herrschens über andere, die ebenso frei und gleich an Rechten geboren sind, ist eine Idee mit Verfallsdatum.”
Wie soll das gehen? Nur durch Aufgabe von herrschenden Zentralisierungen. Dafür brauchen wir Digitalisierung, die den Kern unserer Unabhängigkeit schützen hilft: unser Eigentum.
Aber das ist schon ein anderes Thema…
Zum Schluss: Wer mehr darüber erfahren will, was zur Implementierung einer regierungslosen, freien Gesellschaft gehört, dem empfehle ich zwei Bücher, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben:3
Manchmal sind die Bücher zwar etwas langatmig, manchmal ist der Anspruch etwas groß. Doch immer wieder hat der Autor es geschafft, mich mit klaren Definitionen, überraschenden Zusammenhängen und unkonventionellen Ideen zu informieren und zu inspirieren. Eine konstruktive Kritik am etablierten System. Sie ist im besten Sinn revolutionär.
Eine Gesellschaft in Freiheit ohne Regierung beginnt im Kopf. Wir allen müssen also anfangen, uns das konkreter vorzustellen.
Dass zu dieser revolutionären Sicht nicht so recht passen wollte, wie Sklaven oder die amerikanischen Ureinwohner oder auch die Frauen behandelt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Anzuerkennen ist zumindest die tiefe Einsicht, dass die Herrschaft des einen über andere zur “Tyranney” führt. Darauf sollte keine Gesellschaft mehr gegründet werden.
Daran mag sich so manches Wahlvolk heute ein Beispiel nehmen. Mir scheinen die Zustände in einigen Ländern so, dass der Souverän seine Regierung außer der Reihe zur Räson rufen müsste.
Leider sind beide Bücher nur auf Papier bei Amazon erhältlich. Wer sie digital lesen möchte, kann den Autor aber anschreiben. Er ist sehr zugänglich und stellt auf Anfrage auch epub bzw. PDF zur Verfügung. Chas Holloway ist z.B. auch bei LinkedIn.