Wenn Zeit für Widerstand ist: Wer traut sich dann? Auch friedlicher ziviler Ungehorsam braucht Mut. Sich zu exponieren, sich gegen eine Mehrheit oder die Herrschenden zu stellen, geht an die Substanz. Die emotionale, aber womöglich sogar an die finanzielle. Schon ein Spaziergang am falschen Ort zur falschen Zeit hat Menschen in Konflikt mit Herrschaft gebracht. Widerstand bedeutet durchaus, wissentlich gegen Verordnungen, gar Gesetze zu verstoßen.
Dass politische Veränderungen sich stets durch genehmigte Demonstrationen und dermaleinstige Wahlen erreichen lassen, ist ein Teil des Narrativs der real existierenden Demokratie. Leider sind die Erfolgsaussichten jedoch sehr gering und werden jeden Tag geringer.
Wer hat also Mut und kann es sich leisten, mehr Zeichen zu setzen durch echten, sichtbaren Widerstand? Es sind wenige, denke ich.
Wie könnte die Zahl von Widerständlern aber vergrößert werden? Echte Demokratie lebt von Opposition, die auch mal etwas wagt. Wenn schon die Herrschenden kein skin in the game haben, dann muss die Opposition mit gutem Vorbild vorangehen. Veränderungswille darf das Risiko nicht scheuen. Hans Fallada hat in seinem Roman “Jeder stirbt für sich allein” berührend beschrieben, wie selbst “kleine Leute” über sich hinaus wachsen können, wenn das Maß voll ist.
Aber natürlich ist verständlich, wenn das nicht leicht fällt angesichts eines möglichen Schadens. Nicht jeder Widerständler hat das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben.
Wie könnte der notwendige Einsatz gesenkt werden?
Ich schlage eine Staatsübergriffsversicherung vor. Das scheint mir nur konsequent angesichts des Erfolges, den das Konzept Versicherung in den letzten 200-300 Jahren gehabt hat. Versicherungen sind eine zivilisatorische Errungenschaften, um die grundsätzliche non-ergodicity des Lebens zu mildern.
Ein Unfall mit OP, Krankenhausaufenthalt und Reha kann ein Leben schwer zurückwerfen, auch wenn nach Monaten die Gesundheit wieder hergestellt sein sollte. Ohne Krankenversicherung würden die Kosten Erspartes womöglich hart strapazieren oder sogar Schuldenaufnahme erzwingen.
Ein Feuer, das ein Eigenheim zur Ruine macht, kann auch das Leben der Eigentümer ruinieren. Die Hypothek muss weiterhin abbezahlt, der Schutt muss beseitigt werden und ein neues Dach über dem Kopf muss her. Ohne Feuerversicherung würden die Kosten die Eigentümer womöglich in die Armut treiben.
Versicherungen sind eine segensreiche Erfindung. Auch die Rechtsschutzversicherung, die umso angezeigter ist, je undurchsichtiger Rechtsverhältnisse und klagefreudiger die Mitmenschen sind.
Warum also nicht eine Rechtsschutzversicherung der anderen Art? Eben eine Versicherung, die bei Übergriffen des Staates einspringt. Ob Widerstand zufällig oder Mutwillig geleistet wird: Wenn es zur Kollision zwischen Bürger und Staat kommt, springt die Versicherung ein.
Dass Allianz oder Generali eine solche Versicherung auflegen würden, ist natürlich nicht anzunehmen. Aber Bürger könnten sich zu “Genossenschaften” zusammenschließen. Gleichgesinnte, die die Notwendigkeit zum Widerstand teilen, könnten “Geld in einen Topf legen”, um diejenigen unter ihnen, die ihren Mut mit einer Anklage bezahlen, zu stützen. So haben Feuerversicherungen und Krankenversicherungen früher auch angefangen: Menschen mit gleichen Risiken, haben sich gefunden, um sie auf viele Schultern zu verteilen.
Friedlicher Widerstand darf nicht zur Pleite führen.
Das scheint mir auch in Demokratien ein Grundsatz, den es gemeinschaftlich zu stützen gilt. Widerstand ist ein Fall für echte Solidarität. Die Vielen können Geld zusammenlegen, um den Wenigen, die Opfer eines Staatsübergriffs geworden sind, zu helfen; oder sie können Kompetenzen kostenlos anbieten, die in ihnen versammelt sind (z.B. Rechtsbeistand).
Natürlich sollte Widerstand nicht leichtfertig geleistet werden. Schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mahnt zur Mäßigung
“Gewiß gebietet die Vorsicht, daß seit langem bestehende Regierungen nicht um unbedeutender und flüchtiger Ursachen willen geändert werden sollten, […]”
Doch wenn ein gewisses Maß erreicht ist, wenn Herrschaft rote Linien überschritten hat, dann ist Widerstand Pflicht — bis hin zum Absetzen der Herrschaft. Nochmal die Unabhängigkeitserklärung:
“[W]enn irgendeine Regierungsform sich für [ihren] Zweck[] als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen […] Aber wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen, die stets das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht erkennen läßt, sie absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht, ist es ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und sich um neue Bürgen für ihre zukünftige Sicherheit umzutun.”
Solch radikaler Wechsel ist natürlich keine Kleinigkeit und steht auch nicht in der Macht des einzelnen Unmutigen. Aber ziviler Ungehorsam, kleine Stiche, eher symbolische Handlungen sind in Reichweite — doch sie erfordern eben doppelten Mut, wenn es ein nicht unerhebliches Risiko finanziellen Schadens gibt.
Hier könnte eine genossenschaftlich organisierte Staatsübergriffsversicherung vielleicht helfen, mehr “Waffengleichheit” zwischen Bürgern und Herrschaft herzustellen.
Mir scheint, nach 100+ Jahren real existierender Demokratie sollte der Umgang mit Herrschaft etwas moderner gestaltet werden. Warum nicht aus anderen Bereichen lernen? Das eine ist, Marktwirtschaft auf Herrschaft anzuwenden: Die beste Regierung möge den meisten Zuspruch erfahren; andere lässt man einfach hinter sich und stimmt mit den Füßen ab. Das andere ist, Versicherungen einzuführen, um sich nicht nur gegen Natur und Mitmenschen zu schützen, sondern eben auch gegen Regierung.
Es braucht einfach mehr Menschen, die sich trauen.
Hallo Herr Westphal, ich finde Ihre beschriebene Idee durchaus interessant und auch sinnvoll. Nur sehe ich leider einen Haken, der sich aus meiner Sicht inzwischen durch alle gesellschaftlichen oder politischen Ebenen zieht. Es wird immer einen geben, der mehr am eigenen Wohl, der eigenen Macht interessant anstelle der genossenschaftlichen Ziele. Will heißen, der Kleine zahlt kräftig ein, vielleicht ja sogar eins seiner letzten Hemden und im "Schadensfall" hilft auch die Genossenschaft nicht, weil sich deren Machtstruktur aufs eigene Wohl bereichert hat...