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> Oft hörte ich den Satz von ihm: “Es kann ja nicht jeder so in den Tag hinein leben wie du”. Dieser Satz ist stellvertretend für die Denkweise der meisten Menschen in diesem System. Es ist undenkbar, dieses Muster einfach zu durchbrechen. In den Köpfen herrscht die irrationale Angst, dass dann alles zusammen brechen und die Welt im Chaos versinken könnte.

Den Satz kenne ich zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber ich verstehe, was du meinst. Ja, da ist eine Angst. "Wenn das jeder machen würde?"

Interessanterweise hat niemand gefragt, was passiert, wenn jeder einen 9-5 Job an 5 Tagen/Woche mit 5 Wochen Urlaub im Jahr. Es ist einfach zur Norm entwickelt worden. Und weil es die Norm ist, muss es auch so bleiben. Das ist ja der Sinn von Normen.

Deinem Vater ging es also nicht um eine Kritik an einem tagträumerischen Leben, sondern an der Widerständigkeit gegenüber der Norm. Egal welcher.

Ich finde das einerseits verständlich - aber andererseits natürlich kontraproduktiv. Denn Normen sind ja nur Werkzeuge. Die haben einen Zweck unter bestimmten Bedingungen. Wenn sich der Zweck verschiebt oder nicht erreicht wird oder die Bedingungen sich ändern, sollte das Werkzeug gewechselt werden.

Und was war der Zweck eines 9-5 Jobs mit Wochenende und Urlaub? Industrieproduktion. Die frühere 6-Tage Woche und die heutige 37,5 Stunden Woche sind Resultate von 200 Jahren Arbeitskamp. Sie wurden von Kapital und Politik zugestanden. Mehr nicht.

Der Bauer kennt keine Uhr, sondern Tag und Nacht und einen Kalender und das Wetter. Danach wird gearbeitet, wenn es nötig ist. Wenn da jemand sagt, "Ach, heute male ich mal was, statt die Ernte einzubringen, weil die Frucht reif und das Wetter gut ist.", dann ist das kein Erfolgsrezept. Auf die Frage "Wenn das jeder machen würde?" wäre die Antwort "Hunger!"

Aber ein Bauer arbeitet nicht in einem sozialen System. Er kann nur der Natur folgen. Deshalb ist er nicht unfrei. Es gibt schlicht keine Alternative, wenn er eine Ernte einbringen will.

Der Industriearbeiter früher wie heute oder auch der Knowledge-Worker arbeiten in einem sozialen System. Da kann prinzipiell alles auch anders sein, weil alles nur so ist, wie es ist, weil Menschen es bestimmt haben zu einem Zweck. Fragt sich nur, was dieser Zweck ist.

Bis zu einem gewissen Grad sehe ich einen Zweck aus der Sache heraus: Das Arbeiten im Takt hat eine Synchronisierungsfunktion. Damit wird Arbeit effizienter. Das dient der Kapitalmehrung - von anderen.

Hier in Bulgarien auf dem Lande sehen wir viel weniger von diesem Takt. Die Menschen leben mehr mit dem Sonnenlauf und dem Wetter - und kein Chaos bricht aus. Es gibt auch keine richtige 5-Tage Arbeitswoche. Es wird immer irgendwie gewerkelt. Aber am Sonntag gehen manche zu Kirche.

Es ist schlicht eine Frage des Zweckes bzw. der Prioritäten: Was ist denn eigentlich wichtig? Worum geht es vor allem? Um das Kapital von anderen oder um das eigene Lebensglück?

Wenn sich jeder um sein eigenes Lebensglück zuerst kümmern würde, ja, dann würde sich so manches ändern. Dass Chaos ausbricht, ist jedoch nicht zu erwarten. Vllt gäbe es kein iPhone oder kein SpaceX. Vielleicht aber doch.

Die Freiheit beginnt damit, die Norm zu hinterfragen. Wer sich traut, sich vorzubehalten, ihr zuwider zu laufen, ist frei. Dafür braucht es den Mut, den Kommentare anderer zu ertragen.

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Dieser Satz trifft es sehr gut: „ Die Freiheit beginnt damit, die Norm zu hinterfragen. Wer sich traut, sich vorzubehalten, ihr zuwider zu laufen, ist frei.“

Auch finde ich dein Beispiel mit den Bauern sehr gut. Er spiegelt nämlich genau das wider, was ich sagen möchte. Nur, weil sich der Bauer nicht an die Norm hält, sondern den Gegebenheiten der Natur folgt und die Notwendigkeit erkennt und danach handelt, glaube ich, ist er frei. In vielen anderen (nicht allen) Bereichen ist es aber gar nicht erforderlich, einem festen Muster zu folgen.

Ich denke auch, dass große Neuerungen und Innovationen nur durch das Durchbrechen von Bestehendem und Normen möglich sind.

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Höher als die Norm muss immer die Zweckmäßigkeit stehen. Wenn es Widerstand gegen Abweichlertum gibt - wie bei deinem Vater -, dann muss eigentlich die Diskussion auf die höhere Ebene des Zwecks gelenkt werden. Da wird sich oft herausstellen, dass es darüber schon Uneinigkeit gibt. Und dann kann man immer noch fragen, ob die Norm je bzw. heute noch den Zweck befördert. Also erstens Zweck, zweitens Kontext. Nur wenn darüber Einigkeit herrscht, lohnt sich eine Diskussion über den Weg/das Werkzeug.

In der Softwareentwicklung sieht man das in einer Nussschale: Die Norm -zb Scrum - ist einzuhalten. Alles andere ist "böse" oder zumindest Scrum-But und eine Schwäche. Auch da wird nicht genügend reflektiert (trotz Retrospektivenverordnung), was denn Zweck und Kontext sind.

Normverfechter gibt es überall.

Auch eine bäuerliche Gesellschaft kann dazu degenerieren. Denn die Norm ist süß. Sie verspricht Effizienz. Doch die dunkle Seite der Norm ist der Tod. Norm ist nicht lebendig; sie achtet nicht mehr auf das, was tatsächlich ist. Sie stellt ihre Erwartung über die Realität, allemal über die Verschiedenheit der Menschen.

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