Vom unangemessenen Anruf des Toleranzparadoxons
“Keine Toleranz den Intoleranten!” Das ist der wohlfeile Einwand, mit dem sich heute viele vor allem gegen die Zumutungen der AfD versuchen zu wehren. Was ihnen zu fremd, verstörend, zu extrem erscheint, soll mit Verweis auf den Philosophen Karl Popper in die Schranken verwiesen werden.
Die Positionen der AfD werden als intolerant gegenüber gewissen Bevölkerungsgruppen oder Meinungen empfunden. Und so glaubt man, selbst nicht mehr tolerant der AfD gegenüber sein zu müssen. Mit ihrer wahrgenommenen Intoleranz hat die AfD sozusagen eine tolerante Haltung ihr gegenüber verwirkt. Wer intolerant ist, darf sich eben nicht wundern, wenn er sich Intoleranz zuzieht. Und der Philosoph gibt für die reaktive Intoleranz den Segen des Intellektuellen.
Wenn ich solche reflexartigen Einwürfe sehe und das auch noch in Masse, dann werde ich hellhörig. Wie beim Whataboutism glaube ich nicht, dass plötzlich eine große Anzahl Menschen sich mit dem angerufenen Konzept wirklich auseinandergesetzt haben. Mein Verdacht: Sie haben vielmehr irgendwo etwas aufgeschnappt und werfen das eher unreflektiert in Diskussionen ein, um einen Schutzwall aufzubauen. Wer würde es wagen, etwas gegen den eminenten Karl Popper zu einwänden?
Aber ist mit Karl Popper wirklich alles zum Umgang mit der AfD gesagt? Das bezweifle ich.
Zur Quelle: Das Toleranzparadoxon
Karl Popper hat tatsächlich in seinem Buch “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” im Band 1 das so genannte so genannte Toleranzparadoxon erwähnt:
“Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.”, S. 609f
Das klingt auch für mich plausibel. Wenn die eigenen Werte bedroht werden, kann es notwendig sein, sie zu verteidigen - selbst wenn das im Grunde diesen Werten widerspricht.
Man muss dann jedoch damit zurechtkommen, dass man eben seinen Werten nicht gerecht wird. Und man muss schauen, dass man schnellstmöglich wieder Verhältnisse herstellt, in denen die eigenen Werte gelten.
Das mag nicht so einfach sein; man sollte also vorsichtig sein, den eigenen Werterahmen zu verlassen, um ihn zu verteidigen. Es besteht das Risiko, auf einer schiefen Bahn abzurutschen…
Gleiches gilt nach Popper auch für die Demokratie:
“Ein weiteres, weniger bekanntes Paradoxon ist das Paradox der Demokratie, genauer, der Herrschaft der Mehrheit, d. h. die Möglichkeit, daß sich die Mehrheit zur Herrschaft eines Tyrannen entschließen kann.”, S. 610f
Es ist also so eine Sache mit den Werten. Demokratie, Pazifismus, Toleranz… sie alle müssen sich bewusst sein, dass ihnen womöglich nicht die Kraft und schon gar nicht die Selbstverständlichkeit innewohnt, sich selbst zu erhalten, d.h. ihre Voraussetzungen unter Einhaltung der Werte zu reproduzieren.
Ob das ihre (temporäre) Missachtung aus Selbsterhalt heraus rechtfertigt, will ich dahingestellt lassen. Das muss jeder für sich entscheiden. Die einen gehen für Pazifismus in den Tod, die anderen greifen letztlich doch zu einer Waffe. Welche Intoleranz verträgt die Bekämpfung der Intoleranz?
Die rote Linie des Toleranzparadoxons
Wer sich dafür entscheidet, dass ein Widerspruch zu den eigenen Werten jedoch gerechtfertigt sei, der muss sich fragen, wo denn dafür die rote Linie verläuft. Die Anrufer des Toleranzparadoxons gegenüber der AfD sehen eine solche offensichtlich überschritten. Doch sie bleiben ihre Definition schuldig. Sie sind vom Gefühl bewegt, nicht von der Ratio.
Anders jedoch Karl Popper. Für ihn gab es eine rote Linie:
“Damit wünsche ich nicht zu sagen, daß wir z. B. intolerante Philosophien auf jeden Fall gewaltsam unterdrücken sollten; solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig. Aber wir sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, sie, wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, daß ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen;”, S. 610
Poppers rote Linie ist die Gewalt. Wenn Intoleranz sich gewaltsam manifestiert, dann sei es gerechtfertigt, auf sie mit Gegengewalt zu reagieren. Das kann Selbstverteidigung oder “schützende Gewalt” (PDF) genannt werden.
Gewalt der als intolerant Wahrgenommenen ist jenseits Poppers roter Linie. Diesseits ist der Diskurs:
Solange die Vertreter der wahrgenommenen Intoleranz sich “mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion” bewegen, ist ihnen nicht mit selbstverteidigender Intoleranz entgegen zu treten.
“[Intolerante Philosophien] können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, daß sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.”, S. 610
Hier wiederholt Popper, dass für ihn “der Verteidigungsfall” der Toleranz dann eintritt, wenn die “intoleranten Philosophien” den Raum rationaler Argumente verlassen und zu handfester Gewalt “mit Fäusten und Pistolen” aufrufen.
Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings: Solange “Philosophien” (oder Parteiprogramme, Ideologien, Glaubenssysteme, Religionen) im Gespräch bleiben, solange es einen verbalen Austausch gibt - vorzugsweise einen rationalen, argumentativen, höflichen -, solange gibt es keinen Anlass für Intoleranz ihnen gegenüber.
“Verbale Intoleranz” ist nach Popper also auszuhalten. Wer für sich in Anspruch nimmt, doch eigentlich tolerant zu sein, der muss Widerspruch, auch grundsätzliche, heftigen ertragen, selbst wenn er die Positionen nicht nachvollziehen kann.
Poppers Buch ist eine Reflexion seiner Erfahrungen mit dem 3. Reich. Dort herrschten nicht nur Meinungsverschiedenheiten, sondern körperliche Gewalt war Teil des öffentlichen Lebens. In der Weimarer Republik gab es politische Gewalt auf den Straßen, im 3. Reich setzte die sich in anderer Form fort. Hiergegen wandte sich Popper vehement.
Eine offene Gesellschaft lebt von der Meinungsverschiedenheit, ja, vom Konflikt. Konflikt stellt sich überall dort ein, wo Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben und der Welt miteinander auskommen müssen. Aber solange der Konflikt “in zivilen Bahnen” bleibt, ist er eben auszuhalten. Es gibt keine Offenheit ohne ihn.
Verbale, rationale Konflikte, Meinungsverschiedenheiten sind der Motor einer offenen Gesellschaft. Sie erhalten sie am Leben in sich ändernden Verhältnissen. Das mag unbequem sein und Lösungen (scheinbar) hinauszögern, doch es ist unabdingbar für die Offenheit.
Wer Offenheit will, darf sich keinen Safe Space wünschen.
Damit ist die rote Linie klar, bei der das Toleranzparadoxon Anwendung finden könnte.
Ist diese rote Linie von der AfD überschritten? Ich denke, darauf ist die offensichtliche Antwort Nein. Die AfD beschäftigt keine Schlägertrupps wie damals die NSDAP. Auch wenn es rechtsextreme Gewalt gibt, ist die nicht speziell der AfD zuzuschreiben. Existierende linksextreme Gewalt gibt es ja auch und die wird nicht direkt mit der SPD oder den Grünen assoziiert.
Nein, die AfD bewegt sich diesseits der Popperschen roten Linie. Sie tritt mit ihren Positionen in der gesellschaftlichen Diskursarena an - soweit man sie lässt.
Dort verstört sie so manchen, doch das ist nach Popper kein Grund, ihr mit Intoleranz und Gewalt (z.B. Parteiverbot) entgegen zu treten.
Ergo: Das Toleranzparadoxon ist aus meiner Sicht fehl am Platze in Diskussionen um die AfD. Es in Anschlag zu bringen, ist ein rhetorisches Täuschungsmanöver.
Wider die real existierende Intoleranz
Allerdings stellt sich die Frage, ob es für Gewalt “Fäuste und Pistolen” braucht wie damals im 3. Reich. Ich denke, nein. Gewaltsam können Meinungsverschiedenheiten schon vorher werden.
Was ist denn Gewalt? Sie schränkt gegen den Willen Freiheit ein. Dabei denkt man vor allem an körperliche Gewalt, die körperliche Freiheit beeinträchtigen will. Das kann durch Freiheitsberaubung (im einfachen Fall durch Festhalten oder Fesselung), Verletzung und schließlich Tötung geschehen.
Doch Freiheit bezieht sich auch noch auf andere Lebensdimensionen. Da ist zum Beispiel die Freiheit im Ausdruck (Meinungsfreiheit) oder die, Beziehungen zu knüpfen. Auch hier kann gegen den Willen eingeschränkt werden. Wer an einem Türsteher nicht vorbeikommt, erlebt eine solche Form (legitimer, sogar legaler) Gewalt. Wer von einer Social Media Plattform ausgeschlossen wird, erlebt sie auch.
Ist in dieser Hinsicht der AfD Gewaltanwendung vorzuwerfen? Unterdrückt die AfD freie Meinungsäußerung? Unterbindet sie die Verbindungsaufnahme zwischen Teilen der Gesellschaft? Auch hier scheint mir die Antwort eindeutig Nein.
Dennoch ist diese Gewalt alltäglich in der Gesellschaft. Nur kann ich nicht erkennen, dass sie speziell rechts im politischen Spektrum verortet ist.
Ausgrenzungen von Menschen wegen ihrer Weltanschauung findet täglich statt. Cancellation und Shadow Banning sind an der Tagesordnung. Mit dem DSA ist diese Form der Gewalt sogar in ein Recht gefasst - und das hat die AfD nicht zu verantworten.
Insofern: Ja, die Intoleranz, sogar die gewaltsame ist auf dem Vormarsch. Ihrer müssen wir uns erwehren. Doch die nicht zu tolerierende Intoleranz ist bei den Altparteien verortet. Sie fühlen sich außerstande, der AfD (oder auch anderen alternativen Parteien) im Diskurs auf toleranter Augenhöhe zu begegnen. Deshalb greifen sie zu “sozialer” Gewalt und schränken die Freiheit zur Meinungsäußerung ein. Social Media Plattformen wie ÖRR sind die Kampfplätze dieser Gewalt.
Diese Gewalt unter dem Deckmantel von Offenheit darf nicht länger toleriert werden! Ich bin sicher, Karl Popper würde seine rote Linie überschritten sehen.
"Ich neige zur Ansicht, daß Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befanden. Und ich halte es in der Politik für ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir können, für das Ärgste vorbereiten", S. 256
Und zu den Herrschern gehört die AfD (noch) nicht.
"Und tatsächlich ist die einzige von Widersprüchen freie Form der Theorie der Souveränität eine Form, die verlangt, daß nur derjenige regieren solle, der entschlossen ist, seine Macht unter keinen Umständen aufzugeben.", S. 613
Dass dem die derzeit Regierenden folgen, scheint mir offensichtlich.