Win-win als einziger Ausweg
Nur mit Respekt vor Andersartigkeit als höchstem Gut hat die Menschheit eine Zukunft
Die Geschichte der zivilisierten Menschheit ist eine der Barbarei. Uns das klar zu machen, können wir nur schwer aushalten. Es zu leugnen, würde uns allerdings jede Zukunft verbauen, denke ich. Wir dürfen den Blick deshalb nicht von dieser grausamen Wahrheit abwenden; wir dürfen es uns nicht schönreden. Ohne schonungslose Anerkenntnis werden wir es sonst nicht ändern — wenn wir es denn ändern wollen.
Nicht, dass die Belege dafür schwer zu finden wären. Schon beim Gang durch eine der vielbesuchten Großstädte der Welt stolpert man förmlich über die Geschichte der Barbarei der selbsternannten Zivilisierten und/oder von Gottes Gnaden Erwählten. Die Menschen haben es ja zu allen Zeiten geliebt, ihre Zerstörungserfolge und Unterdrückungssiege in grandiosen architektonischen Monumenten zu verewigen. Weltliche wie religiöse künden stumm und zeitlos von den Schreien der Getöteten und Geknechteten.
Die bewunderte Größe der Einen steht immer wieder auf den vergessenen Leichenbergen der untergegangenen Anderen.
Zwei Bücher, auf die ich über ganz unterschiedliche Wege gestoßen bin, haben mir diese verstörende Wahrheit in letzter Zeit näher gebracht:
Eigentlich wollte ich zunächst nur etwas über die gesellschaftliche Organisation der nordamerikanischen Indianer lesen; doch das Thema wurde verdunkelt durch zahlreichen Publikationen zu ihrer Ausrottung. Dass Deutschland im Dritten Reich Millionen Juden getötet hat, ist allen Deutschen präsent und als “Volksschuld” ins Stammbuch geschrieben. Dass unter Stalin Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten, ist schon weniger bekannt. Dass Mao Millionen auf dem Gewissen hat, ist wahrscheinlich kaum je ins Bewusstsein der Deutschen gedrungen. Und was ist im Westen gewesen? Ist Massentötung und Genozid-Dunkelheit vor allem im Osten?
“By any reckoning, the Indigenous Holocaust in the Western Hemisphere was, as Stannard has pointed out, “the worst human holocaust the world had ever witnessed.” No words or numbers can adequately convey the scale of the horror and tragedy involved in the greatest sustained loss of human life in history.”, Counting the Dead: Estimating the Loss of Life in the Indigenous Holocaust, 1492-Present von David Michael Smith
Nein, der Westen ist nicht ohne Schuld. Auch und gerade die US-amerikanische Gesellschaft ist auf einem Genozid errichtet — und nicht nur einem, denn der Indigenous Holocaust rechnet die Opfer der Sklaverei noch gar nicht mit ein.
Eigentlich können wir, die wir uns aufgeklärt und viel weiter entwickelt glauben, nur in Schockstarre gerade angesichts dieser Wahrheit, und anschließend verzweifelt aufzuspringen, um diese Zustände endlich, endlich zu beenden. Denn diese Geschichte der menschlichen Grausamkeit ist noch nicht beendet. Sie wandelt nur ihr Gesicht und die Gewalttätigen wechseln ihre Ideologie.
Aber was kann getan werden? Im Zusammenhang mit meinem Besuch beim Floating Man Festival der Staatsgründung in progress von Liberland stieß ich auf dieses Buch:
Darin fand ich einen Hinweis zur Antwort auf eine Frage, die mich schon lange bewegt: Wie kommt es eigentlich, dass Menschen persönlich vor allem nett sind, wo auch immer ich sie treffe — und dann im Grunde dieselben Menschen hilfreich sind bei allerlei Menschenunwürdigem?
Der Autor hat dafür eine simple Erklärung: Es liegt an einem Paradigma und an einem Missverständnis.
Das Paradigma ist der Glaube, dass win-lose Lösungen auf Dauer funktionieren und die Menschheit weiterbringen. Win-lose Lösungen sind solche, bei denen eine Seite gewinnt auf Kosten der anderen. Beispiele: “Damit das Christentum siegt, müssen die Muslime verlieren.”, “Damit die Demokratie siegt, muss der Kommunismus ausgerottet werden.” Und ich setze aus aktuellem Anlass hinzu: “Damit das Gesundheitssystem bestehen bleibt, müssen die Impfgegner verlieren.”, “Damit der Westen gewinnt, muss Russland unschädlich gemacht werden.”
Das Missverständnis ist, dass Kausalverhältnisse — allemal in sozialen Systemen — offenkundig und somit unzweifelhaft sind und also von jedem Menschen “rechten Glaubens” anerkannt werden müssen. Die Kausalverhältnisse beziehen sich auf den Einfluss der attackierten Partei zur attackierenden. Beispiele: Das Christentum fühlt sich und seinen Gott dem Untergang geweiht, weil die Muslime darauf hinarbeiten. Der freie Westen fühlt sich existenziell bedroht, weil der Kommunismus die Freiheit ausrotten will. Oder aus aktuellem Anlass: Die Volksgesundheit ist in Gefahr, weil Impfgegner sich einer Impfung widersetzen. In allen Fällen wird also eine Gefahr als unzweifelhaft postuliert und mit nur einem, vor allem äußeren Gegner kausal verknüpft. Um die Gefahr abzuwenden, ist also weder nach innen zu schauen — Was sind die eigenen Anteile an der Gefahr? —, noch kann mit dem Gegner ein anderer Weg als der der Unterwerfung, gar Auslöschung gefunden werden.
Diese Erklärung kommt mir recht plausibel vor. Natürlich ist zu fragen, warum sich dieses Paradigma geradezu pandemisch in den letzten 12.000 Jahren unter den Menschen ausgebreitet hat. Und es ist zu fragen, warum Menschen so anfällig sind für eine solche Trivialisierung von Kausalität. Doch in diese Niederungen der menschlichen Psyche will ich gar nicht hinabsteigen. Mir geht es darum, was denn getan werden kann, wenn diese Erklärung der Wahrheit nahekommen sollte.
Für Snelson liegt die Lösung auf der Hand:
Das win-lose Paradigma muss überwunden werden durch eine Umkehrung. Wir müssen raus aus dem ewigen Kampf und Wettbewerb und hinein in Kooperation. Wir müssen uns stets um win-win Lösungen bemühen.
Das funktioniert aber nur, wenn wir daran glauben, dass es die überhaupt geben kann. Dazu muss das Missverständnis in Hinsicht auf die Kausalität ausgeräumt werden. An die Stelle von geglaubten Kausalitäten müssen echte, gar wissenschaftlich nachgewiesene treten.
Mehr Kooperation, mehr Wissenschaft: damit kann die Grausamkeit der Menschen bezwungen werden. Das wäre doch schön, oder? Ja, das wäre schön — allein, ich sehe darin noch einen Idealismus mitschwingen, der mir irreal erscheint.
Idealistisch scheint mir die Annahme, dass Kausalitäten sich klar erkennen lassen jenseits von Physik und Chemie. Schon in der Medizin, aber vor allem in allen sozialen Belangen lässt sich darüber jedoch lange streiten. Besteht wirklich eine Gefahr? Geht die wirklich von der vermuteten äußeren Ursache aus oder eher wahrhaftig von einer anderen? Wie in jüngster Zeit COVID-19 und Ukraine-Konflikt zeigen, wird die Wissenschaft von allen Seiten angerufen. Ja, der Anspruch auf Objektivität vertieft sogar noch den Graben zwischen den Parteien. Dass also trust the science die Welt zu einem besseren Ort machen könnte, halte ich inzwischen für eine Wette auf das falsche Pferd. Szientismus beflügelt mit seinem Objektivitätsanspruch win-lose Lösungen.
Nein, ich nehme von Snelson mit, dass es nur mit einem Paradigmenwechsel geht. Auf Wissenschaft als Werkzeug darf nicht gesetzt werden! Es geht nicht darum, unsere Erkenntnisfähigkeit zu verbessern. Wenn die Menschen früher noch nicht so gut Kausalverhältnisse erkannt haben — z.B. in der Inquisition, die die Korruption von Menschen durch den Teufel ausmerzen wollte —, dann tun sie das heute so viel besser? Sie müssen sich nur bemühen und die Grausamkeit wird abnehmen, weil es ja keine falschen Gründe mehr für sie gibt?
Ich denke jedoch: Bessere ethische Entscheidungen haben schlicht nichts mit besseren Erkenntniswerkzeugen zu tun. Ethische Entscheidungen sind kategorial andere. Es sind Entscheidungen aufgrund von Werten. Nur wenn die Ergebnisse, zu denen win-lose Lösungen führen, als weniger wünschenswert bewertet werden, als die, zu denen win-win Lösungen führen, kann die Menschheit sich zu wahrer Zivilisation entwickeln.
Und worin bestehen win-win Lösungen? Ich denke, am Anfang steht nicht nur Toleranz, sondern Respekt. In Toleranz steckt mir noch zu viel Dominanz, mit der man sich allerdings zurückhält. Respekt lässt die hinter sich und bringt widerstrebende Parteien auf Augenhöhe.
Einen Ausweg aus der Grausamkeit sehe ich nur, wenn die Menschen sich gegenseitig respektieren. Jeder ist mit jedem existenziell auf Augenhöhe. Immer. Das bedeutet, alle Meinungen, Sichtweisen, Verständnisse, Überzeugungen, Glaubenssätze sind gleichwertig. Sie mögen nicht in gleicher Weise zu einem glücklichen Leben ihrer Vertreter führen — doch das ist keine Sache, die irgendjemanden sonst interessieren sollte.
Echte Meinungs-, Glaubens-, Überzeugungsfreiheit ist also die Grundlage für eine humanere Menschheit. Sie ist das höchste Gut und steckt im Grunde schon in den 10 Geboten, die sich nach Snelson so zusammenfassen lassen:
“Never seek gain through the loss of another by force or fraud. […] [Because] two-sided (bilateral) gain from creating wealth through win-win exchange far outweighs the one-sided (unilateral) gain from stealing wealth through win-lose exchange.”
Eine andere Sichtweise zu haben, ist das natürlichste der Welt. Natürlich kann über jede trefflich gestritten werden; Überzeugungsversuche dürfen unternommen werden. Doch Gewalt jeder Art muss aus dem Spiel bleiben.
Um Veränderung zu bitten, zu Veränderung einzuladen, ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Fortschritt gibt es nur, wenn die einen frische Meinungen entwickeln und die anderen überkommene aufgeben. Allerdings müssen alle Seiten akzeptieren, dass dann manche Entwicklung nicht so schnell vonstatten gehen mag, wie sie es gern hätten.
Das ist geradezu eine Abkehr von jedem Objektivitätsanspruch. Die Menschheit würde im Zeitalter der wahrlich gemeinsamen Konstruktion ihrer Wahrheit ankommen. Eine überhöhte Vorstellung von Wissenschaft wäre dem hinderlich.
Die Geschichte wahrhaft humaner Zivilisation beginnt erst, wenn jeder Objektivitätsanspruch aufgegeben und alle Positionen respektiert werden.
Das ist schwer für jeden, der von etwas tief überzeugt ist und seinem Gegenüber doch nur das Allerbeste durch Übernahme seiner Sichtweise angedeihen lassen will. Aber es hilft nichts: Im Glauben an Objektivität steckt der Keim für Gewalt, also win-lose Lösungen. Wohin das führt, zeigen Geschichte und Gegenwart.
Mir scheint deshalb Respekt der anderen Sichtweise das einzig langfristig tragende Fundament für das Zusammenlebens. Alle anderen zivilisatorischen Äußerungen müssen sich auf diesem “heiligen Grund” entfalten, wie sie auch im Rahmen der Gravitationskraft stattfinden.
Das sind doch Allgemeinplätze, die sie hier abdecken. Die eigentliche Schwierigkeit entsteht doch erst, wenn es Glaubenssätze gibt, die andere Menschen den Wert absprechen. Siehe Karl Poppers Toleranz-Paradoxon: https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranz-Paradoxon