Der Kapitalismus lebt vom Stress. Wie kann das sein? Es ist so einfach: Stress fördert Konsum. Wer im Stress lebt, der braucht Entlastung. Die findet er in den vielen kleinen und großen Dingen, die er sich gönnt. “Das habe ich mir verdient!” ist das Grundgefühl im kapitalistischen Stress.
Wenn das Hamsterrad sich mal ein wenig langsamer dreht — am Abend oder am Wochenende — und die Erschöpfung spürbar wird… dann ist der erste Gedanke des gestressten Werktätigen nicht, wie er denn aus dem Hamsterrad aussteigen könnte. Nein, sein erster Gedanke ist, wie er die Erschöpfung, den Schmerz, die Abhängigkeit aus seinen Gedanken entfernen kann. Und so greift er zur Flasche — ein Weinchen am Abend, ein Bier mit Freunden, Shots all night long auf der Party —, er greift zur entspannenden Rauchware, er geht ins Restaurant, er kauft sich ein schützenderes und bequemeres Auto, er belohnt sich mit einem Urlaub, er greift in die Tasche fürs Eigenheim, er shoppt sich durch den Samstag, er lässt sich durch Kino und Konzert entertainen usw. usf.
Und warum auch nicht: Warum denn so viel arbeiten, wenn man davon nichts hat?
So hält sich der Kapitalismus am Laufen: Er erzeugt Stress in einem gewissen Bereich, der für ihn förderlich ist.
Weniger Stress würde weniger Konsum bedeuten. Wer entspannt ist, braucht weniger Ablenkung, Kompensation, Flucht — die allesamt Geld kosten. Wer entspannt ist, nimmt sich womöglich die Zeit, mehr selbst zu machen, als durch andere machen zu lassen. Selbst kochen, statt ins Restaurant gehen. Selbst reparieren, statt neu kaufen. Gar selbst anbauen, statt aus dem Supermarkt holen. Oder einfach nur spazierengehen mit einer Stulle für die Pause, statt kostenpflichtig Kanu fahren und anschließend ins Café.
Mehr Stress hingegen würde auch weniger Konsum bedeuten. Jenseits eines gewissen Stresslevels fehlt die Zeit für Konsum und/oder sogar die Fähigkeit. Wer geistig ausgebrannt ist oder gar körperlich geschädigt durch die ganze Arbeit, der kann nicht mehr konsumieren. Eine Weile lang verlagert sich die Geldausgabe zwar noch vom persönlichen Spaßkonsum hin zum Konsum medizinischer Leistungen1 — doch irgendwann ist Schluss. Dann sinkt der Konsum rapide.
Ein “nachhaltiger Kapitalismus” muss es also schaffen, den Stressregler so einzustellen, dass er sich die Konsumenten nicht abgräbt. Es darf ihnen nicht zu gut gehen, dass sie anfangen, auf den Konsum zu pfeifen. Andererseits darf es ihnen nicht zu schlecht gehen, dass sie nicht mehr direkt oder indirekt konsumieren wollen oder können.
Die meisten Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft wie Deutschland sind links von der Konsumspitze. Sie könnten theoretisch durch mehr Stress noch mehr verdienen und dann auch mehr konsumieren. Doch nur wenige versuchen oder schaffen das; verschiedene Kräfte halten sie auf ihrem schon hohen Stresslevel, auf dem sie sich das Leben mit Konsum versüßen. Sie haben sich in ihrem Stress eingerichtet; einen Ausweg scheint es auch nach links nicht zu geben. Sie sind verstrickt in Abhängigkeiten aller Art. Und der Kapitalismus flüstert ihnen ein, dass das gut und richtig so sei.
Schließlich kann sich aber niemand wehren gegen den Zahn der Zeit. Der nagt an der Gesundheit und das umso mehr, je höher der Stress in den Konsumjahren war: “Genüsse” wie Alkohol, Rauchen, Selbst-Mast haben ihren Preis wie der Raubbau an der geistigen und körperlichen Gesundheit durch Arbeit. Und so gleiten alle im Alter in der Konsumkurve nach rechts.
Für manche gibt es natürlich auch noch einen anderen Grund: “Erfolg”. Wer die Karriereleiter ersteigt, bewegt sich auch in höhere Stressregionen — wird dafür jedoch mit mehr Gehalt und deshalb Konsummöglichkeit belohnt. Das funktioniert eine Weile. Einen Schutz vor Krankheit und Tod stellt das jedoch nicht dar.
Andere hingegen wählen einen anderen Weg. Ganz bewusst versuchen sie, Stress zu reduzieren; sie steigen auf die eine oder andere Weise aus dem Hamsterrad des Kapitalismus aus. Mehr Stress für mehr Geld für mehr Konsum ist für sie nicht (mehr) der Weg zu mehr Lebensglück.
Sie bewegen sich in der Konsumkurve nach links — und damit weg von der Masse. Solch ein Schritt wird von Verharrenden einerseits bewundert, allein sie fühlen sich unfähig, ihn selbst zu gehen. Andererseits beäugt man ihn skeptisch: Kann so ein Leben außerhalb des Konsums funktionieren? Ist das überhaupt solidarisch?
Es hat knapp 200 Jahre gedauert, bis der Kapitalismus sich auf einem Niveau nahe der Konsumspitze eingependelt hatte. Er musste eine gewisse Selbstbegrenzung nach oben hin lernen. Ausgebeutete Arbeiter waren keine Grundlage für nachhaltigen Konsum.
Doch nun ist der Kapitalismus in einer neuen Phase. Ihm wird bewusst, dass es auch eine untere Grenze für den Stress gibt. Die Technologien sind da, um den allermeisten Menschen ein stressfreies Leben zu ermöglich — doch sie könnten dann auf die Idee kommen, sich nicht mehr am Kapitalismus zu beteiligen. Ihr Konsum könnte auf ein nicht erhaltendes Niveau sinken. Deshalb wird der Kapitalismus auf die eine oder andere Weise die Stress-Schraube wieder/weiter anziehen. Dass Menschen gerade auch mit ihren Sorgen rund um die Klimakatastrophe sich zunehmend auf den Weg nach links in der Kurve machen, ist nicht in seinem Interesse.
Wer das durchschaut und nicht mehr mitkonsumieren will, der muss sich in Zukunft doppelt anstrengen, um einen Ausweg zu finden.
Das Bruttosozialprodukt steigt sowohl beim Restaurantbesuch wie beim Medikamentenkauf, einem Urlaub wie einer OP, einer Geburt wie einer Beerdigung. Dem Kapitalismus ist es prinzipiell egal, ob aufgebaut oder zerstört wird. Er will Umsatz, mehr Umsatz — muss aber aufpassen, dass er sich die Voraussetzung für den Umsatz nicht zerstört.
Nicht Kapitalismus erzeugt Stress, Geldsozialismus durch Fiatgeld viel eher.
Der Kapitalismus lebt vom Stress.
Der Kapitalismus erzeugt Stress, weil es ihm förderlich ist.
Der Kapitalismus stellt den Stressregler auf ein für ihn optimales Level ein.
Der Kapitalismus flüstert uns ein, was gut und richtig ist.
Der Kapitalismus hat gelernt, sich selbst zu begrenzen und den Stressregler nicht zu weit aufzudrehen..
Dem Kapitalismus wird jetzt bewusst, dass es auch eine untere Grenze für den Stressregler gibt.
Demnächst wird der Kapitalismus die Stress-Schraube wieder nach oben drehen.
Das klingt wirklich überzeugend. Eine sehr schöne Analyse. Wenn das alles so stimmt, dann wäre es wohl am einfachsten, bei dem Herrn (oder der Frau?) Kapitalismus vorbei zu schauen, um ihm (ihr?) die Meinung zu geigen und um dafür zu sorgen, dass er (sie?) sich in Zukunft nicht mehr so unanständig benimmt. Scheint ein/e übler Geselle/in zu sein. Ich habe ihn (sie?) leider noch nicht getroffen. Aber wenn Sie wissen, wo er (sie?) sich versteckt hält ... Das wäre wirklich sehr hilfreich! Gottverdammich!